„Wir sind alle nur Menschen.“ Ausgangspunkt dieser opulenten spanischen Tragikomödie sind vier grundverschiedene Teilnehmer einer Therapiegruppe für Übergewichtige inklusive ihres exibitionistischen Ernährungstherapeuten. Schnell wird klar, dass die Kapitel der Abnehmlektionen (1. Wahrheit, 2. Aktion, 3. Ausdauer, 4. Triumph) sich gar nicht auf den Gewichtsverlust beziehen, sondern auf den beschwerlichen und rastlosen Weg zur Selbsterkenntnis. In feinster Erzähltechnik des melodramatischen Kinos à la Pedro Almodóvar fügt Jungregisseur Daniel Sánchez Arévalo die vielschichtigen Schicksale, Themen und Bedeutungsebenen zu einem vertrackten Beziehungsgeflecht aus Frust, Liebe, Untreue, Vergebung, verzerrtem Selbstverständnis und individuellen Wünschen zusammen. Optisch schöpft er dabei aus den Vollen, weiß mit seinen Darstellern zu überzeugen und hat alle Erzählstränge fest in der Hand. Dieses ironisch-leichte Kinoerlebnis ist ein herrliches Feuer der Gefühlslagen, begleitet von Lachen, Ernst, Tränen und kleinen Glücksmomenten.
Jurybegründung:
In der Gruppe geht Vieles leichter - auch das Abnehmen. So versammeln sich einige schwergewichtige Menschen in der Therapiegruppe des smarten (und gertenschlanken) Abel, um ihre Pfunde zu bekämpfen. Als Abel sie als Erstes auffordert, sich nackt auszuziehen, und dabei selbst mit gutem Beispiel vorangeht, verlassen die meisten von ihnen fluchtartig den Raum. Nur vier bleiben tatsächlich über und entblößen bald mehr als nur ihren Körper. Enrique war als telegener „Mister Kilo Away“ einst das Modell für erfolgreiches Abnehmen, bis er dicker und dicker wurde und seine Firma und seinen Partner verlor. Die fromme Sofia hätte gern Sex mit ihrem Verlobten Alex, was in ihrer streng katholischen Gemeinde aber vor der Ehe ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die erfolgreiche Leonor hat 20 Kilo zugenommen, seitdem ihr Freund im Ausland ist und traut sich nun nicht mehr, ihm unter die Augen zu treten. Andres ist ein übergewichtiger Ehemann und Familienvater, der sich fürs Abnehmen entscheidet, weil er nicht wie seine Vorfahren mit 50 sterben will.
Die einzelnen Schritte der Therapie (Wahrheit - Aktion - Ausdauer - Triumph) machen den Beteiligten bald klar, was sie im Laufe der Zeit im wahrsten Sinne des Wortes alles heruntergeschluckt haben. Dabei geht es nur vordergründig um den Gewichtsverlust - dahinter steht der beschwerliche, rastlose Weg zur Selbsterkenntnis, und davon bleibt auch ihr Umfeld nicht verschont. Selbst der alerte Therapeut bekommt zunehmend Probleme mit dem wachsenden Bauch seiner schwangeren Frau Paula. Alle Beziehungen gehen im Lauf der Therapie durch dick und dünn und werden gehörig durcheinandergewirbelt. Am Ende hat vielleicht nicht jeder Gewicht verloren, aber jeder hat Selbstbewusstsein gewonnen.
Regisseur Daniel Sánchez Arévalo hat einen turbulenten Ensemblefilm gestaltet, der mit vielen Pfunden wuchert. Dabei steht nicht so sehr das Dicksein im Vordergrund, sondern es geht um Essstörungen und Selbsttäuschungen, um Exzesse und Mangelerscheinungen, die Wahrnehmung des eigenen und des anderen Körpers, um Liebe und Sex, Familie und Kirche und die damit verbunden Begierden und Illusionen, Phobien und Obsessionen, Ängste und Schuldgefühle. All diese Themen setzt er in einem wilden Stilmix in Szene: je nach Situation changiert der Film zwischen ernsthaft oder verspielt, komisch oder dramatisch, ironisch oder klamaukig. Dabei ist die Kamera ständig in Bewegung und nimmt mitunter (z. B. bei einer Fahrt durch die Decke) sehr ungewöhnliche Perspektiven ein.
Obwohl die verschiedenen Parallelhandlungen etwas lang und ausschweifend geraten sind, schafft es der Film, sie zusammenzuhalten und die Balance der Tragikomödie zu wahren. Das ist auch ein Verdienst des großartigen Schauspielerensembles, das in der Entblößung der Körper und Seelen viel Mut und Spielfreude beweist und es schafft, die vielfachen Nöte der Protagonisten sehr menschlich und nachvollziehbar zu gestalten. Insgesamt positiv bewertet wurde, dass der Film zeigt, was normalerweise schamhaft verschwiegen und kaschiert wird. Dabei ist es sehr wohltuend, dass der Film nicht für alle Personen ein Happy End bereithält, sondern dass auch Brüche und Scheitern akzeptiert werden.
Dennoch sind die einzelnen Geschichten von unterschiedlicher Intensität. Die Entwicklung der Frauenfiguren erscheint plausibler als die der männlichen Protagonisten. Sehr berührend ist die sich am Rande entwickelnde Beziehung zwischen der von ihrem Mann zunehmend vernachlässigten, schwangeren Paula und ihrer Schülerin Nuria, der Tochter von Andres. Andere Konstellationen und Verhaltensweisen erscheinen dagegen allzu spekulativ und klischeehaft gestaltet. Von Teilen des Ausschusses wurde auch bezweifelt, dass die Kritik am Katholizismus in dieser Form heutzutage noch gesellschaftliche Sprengkraft hat.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)