Für Simon steht fest: „Ich wohne in einem Irrenhaus!“ Und irgendwie war das nie anders. Denn schon seit Jahren hat Simons Vater psychische Probleme, die in immer stärkeren Schüben an die Oberfläche treten. Er fühlt sich beobachtet, ausspioniert, bedroht. Zunächst sieht der Vater nur im „Draußen“ das Gefährliche, doch immer mehr vermutet er seine eigene Familie gegen sich. Und während Simons Mutter stillschweigend auf Besserung hofft und die kleine Schwester versucht, Papa von seinen Problemen abzulenken, kann Simon die Situation bald nicht mehr ertragen. Zudem eine kalte Angst ihn ergreift, dass ein angeknackstes Seelenleben vielleicht in der Familie liegt. Familiärer Alltag als permanenter Tanz auf dem Vulkan - so beschreibt Christian Bachs Film HIRNGESPINSTER Simons Situation. Ein bedrohlicher Schatten liegt auf jeder Szene, eindringlich eingefangen in nahen Einstellungen, die die Enge und Beklemmung widerspiegeln. Tobias Moretti verkörpert den Vater nicht nur in seiner zwanghaften Paranoia glaubhaft beängstigend. Auch in den subtilen ironischen Momenten ist sein Charisma stets spürbar. Aber auch der junge Hauptdarsteller Jonas Nay trägt den Film mit seinem Spiel und erweist sich als ebenbürtiges Gegenüber des starken Moretti. Die Auflehnung gegen den Vater, die Angst um das eigene Seelenheil, die Hoffnung auf ein kleines Stückchen Liebesglück und die Suche nach einer Perspektive außerhalb der Familie - in all diesen Facetten gelingt Nay eine fabelhafte Verkörperung all der Probleme, mit denen ein Mensch Anfang 20 konfrontiert ist. Auch der Rest des Ensembles steht dieser Leistung in nichts nach. Der Film von Christian Bach ist ehrlich und beschönigt nichts. Dennoch schafft er immer wieder kleine Momente der Hoffnung und deutet am Ende für Simon die Chance eines Neuanfangs an. Ein beeindruckender Film, der sich von Klischees fernhält, konsequent erzählt und mit brillanten Schauspielern aufwarten kann. Ein starkes Familiendrama.
Jurybegründung:
Wie schmal die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn sein kann, zeigt dieser dramaturgisch erstaunlich dichte und konsequent erzählte erste Langfilm von Christian Bach. Ein Architekt, der schon vor längerer Zeit durch eine Psychose seine eigene Firma verloren hat, setzt sich dem enormen Druck einer Bewerbung für ein großes Museumsprojekt aus. Der geniale Baumeister erleidet erneut einen Schub seiner Krankheit, verursacht durch den physischen und psychischen Stress. Doch nicht nur er leidet an den Wahnvorstellungen, dass er überwacht, von Strahlungen bedroht und seine Kreativität gemindert wird, sondern vor allem seine Frau, sein 23jähriger Sohn und die kleine Tochter werden in diesen Strudel hinein gezogen. Der Sohn, der noch immer zuhause lebt, um dort für seine kleine Schwester zu sorgen und der Mutter in den Notsituationen mit dem Vater beizustehen, wagt nicht aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Wie geht eine Familie mit einer solchen Krankheit um, wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen den Eheleuten, wie zwischen Vater und Sohn, und wie wird die erst neunjährige Tochter mit diesem familiären Ausnahmezustand fertig? Aus diesen Fragen bezieht der Film seine Spannung, die bis zum Schluss andauert. Dabei wird in immer neuen Konstellationen das Thema behandelt. Da zerstört der Vater die Satellitenschüssel des Nachbarn, um sich der angeblichen Überwachung zu entziehen, da verkleidet er die Wände mit Goldfolie, um die kosmische Strahlung abzuwehren, und da schlägt er mit einer Axt auf den Wagen der Fernsehelektriker ein, weigert sich aber, die Pillen zu schlucken, die ihm sein Arzt verschreibt, da diese seine Kreativität dämpfen. Bei all diesen dramatischen Darstellungen verliert sich HIRNGESPINSTER nicht in Klischees oder sentimentalen Szenen, verurteilt nicht, sondern erzählt eine intensive, oft tragische Geschichte, in die aber auch Momente der Hoffnung, überzeugende Gefühle und sogar humorvolle Augenblicke eingestreut sind. Herausragend sind alle Darsteller in diesem Film, sowohl der schon mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichneten Tobias Moretti als durch seine Psychose an den Rand des Abgrunds gedrängten Vater, als auch Jonas Nay als der Sohn, der seinen Vater verzweifelt liebt, ihm aber nicht helfen kann und am Ende der eskalierenden Ereignisse selbst zum Opfer wird. Ein bemerkenswertes Kinodebüt, dem das höchste Prädikat verdientermaßen einstimmig zugesprochen wurde.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)