Ein distinguierter Geschäftsmann verabschiedet sich von Frau und Kindern, ein harter Arbeitstag steht vor ihm. Er passiert eine Vielzahl von Leibwächtern und schreitet auf eine Stretchlimousine mit einer streng diskrete und kühl-professionelle Chauffeurin zu. Im Auto konsultiert er seinen Tageskalender mit neun Terminen. Dann klappt er einen großen Schminkspiegel auf, von irgend woher holt er sich eine Perücke. Beim Halt auf einer Brücke steigt er als alte, bekopftuchte Bettlerin verkleidet aus und bittet die Passanten um Kleingeld. Einen kurzen Moment scheint dies ein spielerisch-satirischer Kommentar auf den Kapitalismus darzustellen, doch schon die nächste Szene zeigt, dass man in diesem Film "Holy Motors" hoffnungslos "lost in interpretation" sein wird.
Regisseur und Drehbuchautor Leo Carax hat eine verteufelt rasante Tour de Force entwickelt, einen Kinotraum, der vielleicht auch ein Alptraum ist. In der allerersten Szene, einem Prolog, tritt er selbst auf, schlafwandlerisch öffnet er eine Wand seines Schlafzimmers, das sich zu einem vollbesetzten Kinosaal erweitert, in dem sich allerlei traumartige Seltsamkeiten finden, Hunde, Babys und die Geräusche eines Hafens.
Schauspieler Dennis Lavant spielt Monsieur Oscar, der sich in seinem Tagesverlauf von Rolle zu Rolle weiter verausgabt. Auch wenn einmal der Schauspieler Michel Piccoli als Chef auftritt, bleibt trotzdem unklar, wer die Rollen für Oscar arrangiert und für wen? Oscar hetzt von Termin zu Termin. Einmal tritt er als eine Art irischer Kobold auf, lebt in der Kanalisation, frisst auf einem Friedhof Blumen, stört ein Fotoshooting mit einem wunderschönen Model, gespielt von Eva Mendes, um gleich als Biest die Schönheit zu entführen.
So langsam wird klar, dass es in diesem uneindeutigen Film irgendwie um die Identität geht und genau deshalb macht er so viel Spaß. Albernheit wechselt sich ab mit Verrücktheit, mit kleinen Genre-Sperenzchen, mit sketchartigen Witzen und existentialistischen Philosophien. Und irgendwann wird es sentimental, als Oscar die ergreifende Sterbeszene eines alten Mannes spielt, am Bett seine geliebte Nichte, die sich als Kollegin von der Agentur entpuppt. So dass vollends unklar wird, was echt ist und was nicht. Ist es Zufall oder ein geheimer Plan, oder gar die Willkür des Drehbuchs?
Hier jedenfalls trifft er auf die Schauspielerkollegin Jean, gespielt von Kylie Minogue. In einem leeren Kaufhaus erhalten wir Einblicke über ihre gemeinsame Vergangenheit. Jean singt ein melancholisches Lied, während sie auf ihren Einsatz für eine eigene agenturbeauftragte Szene wartet. Am Ende wird sie durchaus ernst den vollen Einsatz geben. Ist Oscars Betroffenheit dann echt?
Der Film lebt von seinem Tempo, von seinen Überraschungen, von der Vielfalt der möglichen Deutungen, die er dann immer wieder ins Leere laufen lässt. Geschickt variiert Carax die Stimmungen, und auch wenn zwischendurch etwas Hohllauf im letztlich eben doch immergleichen Geschehen von Verwandlung und Vorspiel steckt, kann er am Ende den Zuschauer gewinnen. Weil sowohl Carax als auch Oscar wissen, dass eine jede Erzählung mit einem Lacher enden muss. Und Carax kann sogar zwei Schlussgags aus dem Ärmel ziehen.
Fazit: "Holy Motors" ist eine Tour de Force durch verschiedene Rollen in verschiedenen Episoden, die exzentrisch, verrückt und rauschartig aufeinander folgen.