Thomas Stubers Drama IN DEN GÄNGEN erzählt die Geschichte von Christian, der im Supermarkt anfängt und sich dort in eine Kollegin verliebt - zunächst ohne Hoffnung, dass aus dieser Liebe etwas werden kann.
Als Christian Marion das erste Mal sieht, kommt es ihm vor, als höre er Meeresrauschen. Unwahrscheinlich, denn in den Gängen des Supermarktes, wo sie gerade die Süßigkeiten einsortiert und er von seinem älteren Kollegen in die Kunst des Kastenstapelns eingeführt wird, ist weit und breit kein Meer vorhanden. Und doch ist Christian sofort verzaubert von Marion. Der sehr stille und introvertierte junge Mann tut sich schwer damit, bei Marion einen Annäherungsversuch zu wagen. Doch sein Kollege Bruno bestärkt Christian, nicht aufzugeben. Denn Marion hat es seiner Meinung nach verdient, dass endlich jemand nett zu ihr ist. Und Bruno muss es wissen. Denn er arbeitet schon lange hier in den Gängen, die Teil einer Welt sind, die vom Schein der Neonlampen lebt. Und vom Klang des Gabelstaplers, der langsam seine Runden dreht. In seinem neuen Film IN DEN GÄNGEN erzählt Regisseur Thomas Stuber mit lakonischer Beiläufigkeit vom Mikrokosmos Supermarkt, der auf den ersten Blick kalt, trist und leblos wirkt. Doch je mehr Stuber in die Figuren und ihre Konflikte eintaucht, desto mehr verwandelt sich Tristesse in einen vertrauten Platz für Gefühle, für Sehnsüchte und Hoffnungen, die sich vielleicht nie erfüllen werden. Doch die in jeder Minute so präsent sind wie die übergroße Strand-mit-Palmen-Tapete, die den Aufenthaltsraum ziert. Dazu unterstützend findet die Kamera von Peter Matjasko Bilder, die die Poesie des Alltags in einem solchen Ort einfangen, ohne zu verkitschen oder zu überhöhen. Stuber und seinem Drehbuchautor Clemens Meyer, der für den Film mit seiner Erzählung auch die literarische Vorlage lieferte, gelingt eine feine Balance zwischen Tragik und Komik, zwischen nachvollziehbarer Schwere und großer Leichtigkeit. Dialoge braucht es dafür nicht viel, eher Blicke, Gesten oder Handlungen. Und wenn Bruno Christian das Staplerfahren erklärt oder Marion sich von Christian einen Kaffee ausgeben lässt, dann entstehen aus der Beiläufigkeit dieser Gesten große berührende Kinomomente. Franz Rogowski stellt einmal wieder unter Beweis, dass er nur wenige Worte braucht, um seiner Figur Ausdruck und Präsenz zu verleihen. Er spielt Christian zurückgezogen, scheu, auch ein wenig geheimnisvoll, und doch liebenswert empathisch. Sandra Hüller lässt als Marion beides durchscheinen: die Abgeklärtheit einer Frau, die mit nichts mehr im Leben rechnet und die Verletzlichkeit einer zarten Seele, die noch Träume hat. Der kraftvolle Pol dazwischen ist Peter Kurth, dessen Figur Bruno auf ganz authentische Weise auch die Lebenswirklichkeit eines Teils unserer Gesellschaft vermittelt Und auch das übrige Ensemble überzeugt, Jeder der dargestellten Menschen hat eine Geschichte, die angedeutet, aber nie komplette auserzählt wird. Als Zuschauer geht man einen Teil des Weges mit ihnen. Doch am Ende bewahrt jede Figur auch ihr eigenes Schicksal für sich. IN DEN GÄNGEN von Thomas Stuber ist ein leiser, zarter und warmherziger Film über die kleinen und großen Momente des Lebens.
Jurybegründung:
Ein deutscher Film, der gleich im ersten Bild eine Kubrick-Assoziation zu 2001 - ODYSSEE IM WELTRAUM provoziert, hat nicht nur Seltenheitswert, sondern beweist Schneid und Persönlichkeit. Und wenn IN DEN GÄNGEN uns auch nicht ins Weltall entführt, so zeichnet Regisseur Thomas Stuber mittels dieser Attribute dennoch einen Mikrokosmos, der sich wohltuend abhebt vom oft Gesehenen.
Es stellt eine sehr feine Ironie im Grundkonzept des Films dar, ausgerechnet einen Supermarkt als Setting zu wählen und damit einen Tempel des Konsums, in dem das den Kapitalismus erhaltende Ritual des Kaufens täglich hundertfach vollzogen wird. Die Menschen jedoch, die hier arbeiten, sind vom System, dem sie dienen, längst abgestoßen worden. IN DEN GÄNGEN erzählt auf spannende und überzeugende Weise von den Nachwirkungen der deutsch-deutschen Vereinigung auf Menschen in Ostdeutschland. In den Figuren spiegelt sich mit Nachdruck der Verlust von Selbstbewusstsein und Perspektiven und der erzwungene Abschied von Identität und gewohntem Leben in der einstigen DDR, das plötzlich von einem auf den anderen Tag für falsch erklärt wurde. In der von Peter Kurth wunderbar verkörperten Figur des Bruno bündelt sich dieser Strang des Films mit Bravour. Wie ein Gefängnis ist der Supermarkt inszeniert, in dem alle zusammen und doch jeder für sich festsitzt. Lange bleibt die Kamera auf den Gesichtern der Figuren stehen, bis ihre Traurigkeit den Zuschauer durchdringt.
IN DEN GÄNGEN zeigt offen die Tristesse und ist doch kein trister Film. Seine Figuren berühren, obwohl bewusst Leerstellen bleiben in ihrer Biografie. Auch Christian, von Franz Rogowski eindrücklich gespielt, ist als Figur nicht auserzählt, es ergeben sich Ungereimtheiten, und Einzelheiten seiner Vergangenheit verbleiben im Nebulösen. Doch gerade diese Leerstellen und offenen Fragen lassen den Film so authentisch werden - welcher uns umgebende Mensch ist schon in allen Belangen immer klar und transparent und in seinem Handeln stets schlüssig und logisch? Und so geht es den Figuren wie uns: Sie versuchen, diese Leerstellen zu füllen. Christian etwa verfolgt heimlich seinen Schwarm Marion nach Hause und sieht sich bei ihr um. Was er dort sieht, irritiert ihn, und er versucht es in das Bild einzupassen, das er sich von Marion gemacht hat. Wohnt jemand wie Marion so spießig?
Jede der Figuren versucht ihren Platz in dieser irgendwie fremden Welt zu finden, so widersprüchlich der zum Teil auch wirken mag. Aus diesen Konstellationen bezieht Thomas Stubers Film starke Momente, deren Relevanz in Bezug auf unsere heutige Gesellschaft nicht hoch genug anzusiedeln ist. Formal filmisch hat die Jury neben der Auflösung des Supermarktes auch die Einbindung von Musik und Sound auf unterschiedlichen Ebenen überzeugt, weil sie als gestalterisches Mittel den geschilderten Mikrokosmos auf besondere Weise bereichert hat. Trotz empfundener Längen freut sich die Jury, den Film mit dem höchsten Prädikat auszuzeichnen.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)