Dies also ist der Film, der uns den diesjährigen Auslandsoscar weggeschnappt hat. Was hat In ihren Augen, was Das weiße Band nicht hatte? Vielleicht hat der Film nicht mehr, nicht Besseres. Aber er hat auch nicht weniger als Michael Hanekes Meisterwerk; ist freilich durchweg als Genrestück, als Kriminaldrama inszeniert. Und wenn man den Erfolg von Hanekes grandiosem Historien-Rätselspiel bedenkt, so wäre In ihren Augen ein ähnlicher Publikumszuspruch zu wünschen, zumal der Film sehr viel mainstreamtauglicher ist, ohne dass es ihm freilich an Komplexität und Anspruch mangelte.
Der Film entwickelt sich aus sich selbst. Gleich drei Anfänge bietet er an, als Bebilderung von Romanversuchen der Hauptfigur Esposito, die die Ereignisse von vor 25 Jahren zu bewältigen versucht. Ein Mord, den er als Kriminalbeamter aufgeklärt hat, Mitte der 70er; ein Mord, der auch sein Leben, seine Sicht aufs Leben verändert hat. Dazu eine Liebe, die im Verborgenen bleibt, seit Jahrzehnten, die sich nach Erfüllung sehnt so wie auch die offenen Frage im Fall der jungen, schönen Liliana, die damals vergewaltigt und totgeschlagen worden war.
Esposito war zu jener Zeit ein Sprücheklopfer, ein Macho mit abgedroschenen Anmachfloskeln, der es sich gemütlich macht, zusammen mit dem Kollegen und Freund über den Chef und den beruflichen Rivalen stänkert und ansonsten seine Ruhe haben, eine ruhige Kugel schieben will. Das ändert sich, als er die Ermordete sieht: weil sie so schön ist, und so tot. Und weil die Liebe des trauernden Ehemannes so groß ist.
Es sind die Augen, in denen sich die Leidenschaft zeigt, sagt sein Freund Sandoval einmal in einer seiner klaren Stunden, mit dem richtigen Alkoholspiegel im Blut, zwischen zwei Schnäpsen: bei ihm seien es die Spelunken, wo er sich betrinken und prügeln kann, bei Esposito das heimliche Verliebtsein in die Staatsanwältin. Und beim Mörder? Da führt die Leidenschaft auf seine Spur, eine Leidenschaft, die sich in alten Fotos zeigt, in den Blicken, die er der Frau seines Herzens zuwirft. Alles kann ein Mann ändern, Aussehen, Familie, Ansichten, seinen Gott. Aber nicht seine Leidenschaft und auf vielen Ebenen, in verschiedenen Erzählsträngen, in kleinen Gesten, in kurzen Augen-Blicken dekliniert der Film dies durch, komponiert als große mehrstimmige Sinfonie, in der alles stimmt, alles stimmig ist.
Der große Bogen der Erzählung ist voll Spannung, ein Kriminalstück mit falschen Verdächtigen, mit Indiziensammeln, mit Action, mit Schuld und Unrecht, mit Korruption und Rache. Darin eingebettet das stille Drama des Esposito, der wartet, die Entscheidung verzögert und dann durch die Ereignisse von seiner Angebeteten Irene weggetrieben wird. Das ganze im Rückblick erzählt, gespiegelt in seinem Romanentwurf der Rahmenhandlung, der Wahrheit, Wunsch, Erinnerung und Fiktion vermischt. Und inszeniert als frisches, witziges Stück über Polizeiarbeit in Argentinien, hinter riesigen Aktenbergen, hinter denen sich eine gewisse lebensnotwendige Beamtenlethargie versteckt, mit Ausbrüchen in zynische practical jokes. Und in diesen zeitgeschichtlichen Hintergrund fließt zudem, in aller Stille, die argentinische Geschichte von politischem Umbruch und Militärdiktatur ein.
Leitmotivische Linien arrangiert Regisseur Juan José Campanella zu einem schlüssigen, stringenten großen Ganzen, grandiose darstellerische Leistungen, wunderbare Bilder, subtile Dialogführung runden den Film ab. Einen Film, der vielleicht nicht das ganze Leben, die ganze Welt enthält, aber eine ganze Ecke mehr davon als der Großteil der Kinokunst der letzten Jahre. Der kleine Weisheiten über das Leben enthält der Mann, der monatelang am Bahnhof sitzt, weil er unter den Pendlern den Mörder seiner Frau sucht, weiß nicht, dass der stets Bus fährt -; und der noch dazu mindestens zwei grandiose Szenen hat, inszenatorische Höhepunkte, die in die Filmgeschichte eingehen sollten: Ein Verhör, in dem raffiniert und mit gehöriger Portion drastischer Gemeinheit ein Geständnis herausgekitzelt wird; und eine Verhaftungsszene, fast ohne Schnitt, mit einer Fahrt von über der Stadt übers Stadion übers Spielfeld hinein in die Zuschauermenge wo der Verdächtige gestellt, verfolgt und beinahe verloren wird.
Fazit: Ein vorzügliches Kriminalstück, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart, Wunsch und Realität, Schuld und Rache, unerfüllte Liebe und unverarbeitetes Trauma zu einem spannenden, tiefgründigen Mord-Drama verbinden. Verdient oscarprämiert.