Netflix ist das neue Fernsehen – und das zeigt sich offenbar ganz besonders in möglichst simplen „Inhalten“, die der Streamingdienst bewusst produzieren lässt.
Mit etwas über 280 Millionen Abonnements weltweit ist Netflix der mit Abstand erfolgreichste Streamingdienst überhaupt. Obwohl die Konkurrenz wie etwa Amazon mit Prime Video aufholt, kann das Unternehmen mit Sitz im kalifornischen Los Gatos seine Position an der Spitze auch ins Jahr 2025 hinein verteidigen. Das Wachstum hat sich zwar verlangsamt, setzt sich aber mit Ausnahme vom zweiten Quartal 2022 weiterhin fort. Dass die Zahl der Abonnements weiter steigt, hängt mit vielen Faktoren zusammen: Zum einen setzt Netflix verstärkt auf ein Vorgehen gegen Account-Sharing, zum anderen auf eine bequeme Kundschaft, die trotz regelmäßiger Preiserhöhungen das Streamingdienst-Abo nicht aufkündigt.
Das sind aber nur die wirtschaftlichen und technischen Aspekte. Die Verantwortlichen bei Netflix wissen, dass Streaming lineares Fernsehen schon längst den Rang abgelaufen hat – und zwar vor allem in einem Punkt: in der Hintergrundbeschallung. Das dürfte neben dem Comfort-Binging, also dem Schauen bereits bekannter Filme und Serien auch aus nostalgischen Gründen, der wichtigste Grund für ein Streaming-Abo sein. Zu Hause den Fernseher einzuschalten und nebenbei beziehungsweise im Hintergrund etwas laufen zu lassen, bei dem man ab und zu mal die Aufmerksamkeit auf den Fernseher richten kann, wenn die besonders beliebte Stelle aufkommt, dürften so gut wie alle kennen.
Bei der Flut an exklusiven Filmen und Serien lässt es sich allerdings nicht vermeiden, dass die Leute diese in mehrere Kategorien einteilen: in die Inhalte, die man wirklich schauen will und die, die man nebenbei laufen lässt, während man anderen Tätigkeiten nachgeht; und sei es auch nur das belanglose Aufhalten in sozialen Netzwerken wie TikTok, Facebook und Instagram. Bei interessanten Stellen wird kurzerhand „zurückgespult“ oder der Titel in der Watchlist für später gespeichert.
Selbstverständlich wissen Streamingdienste darüber Bescheid und produzieren reihenweise anspruchslose „Inhalte“ als leichte Kost für genau diesen Zweck. Netflix umgeht hierfür gar eine goldene Drehbuchregel, wonach Dinge nicht im Dialog, sondern in der Handlung stattfinden sollten. Filme und Serien sind schließlich eine hauptsächlich visuelle Erfahrung. So berichtet Will Tavlin für n+1 von einer typischen Notiz des Unternehmens für Autor*innen, die lautet: „Hat dieser Charakter angekündigt, was er tun wird, damit das Publikum, das diese Produktion im Hintergrund laufen hat, im Bilde bleibt?“ Falls euch Derartiges nicht stört, erwarten euch auch 2025 neue und exklusive Netflix-Produktionen, die wir im Video vorstellen:
„Irish Wish“ als Paradebeispiel für eine simple Handlung mit noch simpleren Dialogen
Auf diese Weise soll ganz offensichtlich das Publikum, das seinen Fokus auf etwas ganz anderes richtet, jederzeit zumindest hören können, was gerade im Hintergrund passiert. Ob das funktioniert, sei dahingestellt. Wer derartige Dialoge vorgesetzt bekommt, wird sie im besten Fall gar nicht wahrnehmen und sich im schlimmsten Fall wie in einer Erklärbär-Sendung vorkommen.
Als Beispiel für einen solchen schlichten Dialog, in dem möglichst viel Handlung eingebettet wird, damit auch niemand verpasst, worum es geht, wird die Liebeskomödie „Irish Wish“ mit Lindsay Lohan und Ed Speleers angeführt:
„Wir hatten einen Tag zusammen. Ich gebe zu, dass er wunderschön war mit dramatischen Ausblicken und romantischem Regen. Aber das gibt dir nicht das Recht, meinen Lebensweg infrage zu stellen. Morgen werde ich Paul Kennedy heiraten“, so Lohan als baldige Braut Maddie Kelly. „Na schön“, antwortet Ed Speleer als Fotograf James Thomas, „und dann bist du mich los. Denn wenn das hier vorbei ist, fotografiere ich in Bolivien gefährdete Baumechsen.“
Es gibt einen Grund, warum sich wenige Hollywood-Größen wie Christopher Nolan und Quentin Tarantino noch immer gegen das Streaming-Erlebnis stemmen. Natürlich kann auch Netflix anspruchsvolle Unterhaltung als sogenannte Ankerproduktionen aufweisen, aber für das Gros des Publikums orientiert man sich offensichtlich an den heutigen Sehgewohnheiten – und die müssen sich mittlerweile mehr denn je die gleichzeitige Aufmerksamkeit teilen.
Ihr seid gerade dabei, die zweite Staffel der Netflix-Hitserie „Squid Game“ zu bingen? Dann wagt euch direkt an euer persönliches Endspiel mit diesem kniffligen Quiz zur südkoreanischen Sensation: