Wenn Regie-Altmeister Martin Scorsese ins Kino lädt, nehmen Filmfans weltweit diesen Aufruf in Scharen wahr. Doch lohnt sich der Gang ins Lichtspielhaus bei „Killers of the Flower Moon“ wirklich?
Während andere im Streaming den Vorboten für den Untergang des Kinos sehen, macht Martin Scorsese offenbar aus der Not eine Tugend. Nachdem er mit Netflix bereits für „The Irishman“ arbeitete, tat er sich jetzt mit Apple für sein neuestes Werk zusammen: „Killers of the Flower Moon“. Das brachte Scorsese einmal mehr ein exorbitant hohes Budget für einen epischen Film ein, das er im klassischen Studiosystem kaum erhalten hätte. Satte 200 Millionen US-Dollar soll sein neuestes Schaffen verschlungen haben (via AP News), für das sich der Regisseur zusätzlich einmal mehr einige gefeierte Darsteller sicherte: Seine beiden Musen Leonardo DiCaprio und Robert De Niro dürfen natürlich nicht fehlen, zudem sind Jesse Plemons, John Lithgow und Brendan Fraser dabei. Eine tragende Rolle hat zudem die bislang noch eher unbekannte Lily Gladstone inne, die sich dank ihrer Darbietung Chancen auf einen Oscar sowie eine an Fahrt aufnehmende Karriere machen darf.
„Killers of the Flower Moon“ basiert auf dem Buch „Das Verbrechen: Killers of the Flower Moon“ (hier bei Amazon erhältlich) und erzählt von den tatsächlich begangenen Morden an Mitgliedern des Osage-Stamms, die sich in den 1920er-Jahren ereigneten. Die Lauflänge von gewaltigen 206 Minuten schreckt sicherlich einige durchaus Interessierte ab. Da aktuell aber noch kein Streamingstart bei Apple TV+ feststeht, sondern das Werk eine exklusive Kino-Auswertung erfährt, dürfte die Frage im Raum stehen: Lohnt es sich, „Killers of the Flower Moon“ trotz dieser Laufzeit ab dem 19. Oktober 2023 im Kino zu erleben? Diese Frage beantworten wir euch gleich, zunächst einmal könnt ihr euch aber mit dem folgenden Trailer auf den Film einstimmen:
Olli: Ein Epos, wie es im Buche steht
„Was Marty so gut kann, ist widersprüchlichen, ruchlosen Charakteren Menschlichkeit zu verleihen. Das musste im Mittelpunkt des Film stehen.“ Wenn ihr mit diesen von Leonardo DiCaprio geäußerten Worten den Kinosaal betretet, wisst ihr, worauf ihr euch bei „Killers of the Flower Moon“ einlasst. Dieses Westernepos überzeugt nicht mit wilden Shootouts, Saloonschlägereien oder ähnlichen Genreelementen, sondern entpuppt sich vielmehr als eine Sozialstudie, die an einen Ort und in eine Zeit verfrachtet wurde, wo der Kapitalismus so flagrant aufblühte wie die Blumen unter dem titelgebenden Frühlingsmond.
So wie Martin Scorsese mit „The Irishman“ einen eher untypischen Gangsterfilm hervorgebracht hat, inszeniert er mit „Killers of the Flower Moon“ einen eher untypischen Western. Das gewaltige Epos wirkt wie eine Three-(Wo)Men-Show, in der Leonardo DiCaprio als ambivalente Figur zwischen zwei Moralpolen oszilliert und dabei mal wieder beweist, dass er zu den ganz großen Darstellern unserer Zeit gehört. Die Frage nach dem persönlichen Anspruch hängt dabei wie ein Damoklesschwert über jeder der Figuren und aus einzig und allein diesem Umstand rührt letztendlich die Spannung.
Im Gegensatz zu vielen anderen Westernfilmen verhandelt „Killers of the Flower Moon“ nicht primär den Topos der Erneuerung durch Gewalt, sondern skizziert eine Gesellschaft, in der jegliche Erneuerung bereits verloren scheint. Wer sich für Geschichten über Barbarei, drapiert im Deckmantel der Tugendhaftigkeit, interessiert, wird hier auf seine Kosten kommen. Wenn ihr hingegen einen rasanten Streifen a la „The Wolf of Wall Street“ erwartet, dürften euch bei den 206 Minuten wohl eher die Augenlieder im Kinosessel zufallen.
Andi: Wie ein „Greatest Hit’s“-Album von Scorsese
Wer die großen Gangster-Epen von Martin Scorsese schätzt, dürfte sich bei „Killers of the Flower Moon“ direkt wie zu Hause fühlen – sofern ihr es eher mit „The Irishman“ als mit „GoodFellas“ haltet. Denn Scorseses neuestem Werk merkt man die Länge von 206 Minuten gerade im Mittelteil definitiv an; mit seinem schmissigeren Abhandlungen über die raubtierhafte Ausbeutung von Menschen wie eben „GoodFellas“ und „The Wolf of Wall Street“ hat sein neuestes Werk hinsichtlich des Tempos wenig gemein.
Wenn euch das nicht abschreckt, dürft ihr euch bei „Killers of the Flower Moon“ aber über ein gefühltes „Greatest Hits“-Album von Scorseses Schaffen freuen. Aufstieg, Höhepunkt und unvermeidlicher Absturz einer kriminellen Partnerschaft? Check. Schonungslose Gewaltdarstellungen? Check. Ein teils überforderndes Sammelsurium an zwielichtigen Gestalten, deren Namen euch im Mittelteil ständig um die Ohren geworfen werden, weil der Film dort ein Verbrechen nach dem anderen abarbeitet? Check. Zweifelhafter moralischer Kodex der Täter, der an Wahllosigkeit grenzt? Check. Tolle schauspielerische Leistungen und immer wieder malerisch schöne Kameraeinstellungen? Check.
Scorsese frönt mit „Killers of the Flower Moon“ also einmal mehr seiner Vorliebe für das Gangstergenre, diesmal verpackt in das Gewand eines Western, wodurch die kriminellen Machenschaften vor dem Hintergrund der zunehmenden Zivilisierung des einst Wilden Westen stattfinden. Das besondere Verständnis des (Raubtier-)Kapitalismus, der den USA und vielen von Scorseses Filmen innezuwohnen scheint, erhält dadurch eine besondere Facette. Denn hier rauben und morden die Gangster mit einer aus seinen Werken fast schon gewohnten Selbstverständlichkeit, die diesmal doch besonders erschreckend ist. Schließlich springt es einem praktisch ins Gesicht, dass es nicht zufällig die weißen Männer sind, die es gefühlt als ihr Recht ansehen, den Ureinwohner*innen auch noch das wenige Glück zu stehlen, das ihnen nach Genoziden und Vertreibung zufällig vergönnt war.
Und doch muss ich mich bei diesem handwerklich hervorragenden gemachten, aber narrativ ermüdendem Werk fragen: Wäre eine Apple+-Mini-Serie nicht der bessere Weg gewesen, um diese epische Geschichte mit ihrer Tragweite und all ihren Facetten so zu erzählen, wie sie es verdient hat? Und… hätte dazu nicht gehört, die Opfer, die Osage, zum Mittelpunkt der Handlung zu machen und nicht (mal wieder) die weißen Täter?