Russland, 1953: Der Kriegsheld Leo Demidow steht als Geheimdienstoffizier hoch im Kurs bei den Befehlshabern, seine Frau Raisa erwartet ein Kind. Für ihn könnte das Leben nicht besser sein. Als eines Tages jedoch der Sohn seines Kollegen und Freundes ums Leben kommt, ändern sich die Dinge. Die Autopsie des Jungen lässt Rückschlüsse auf ein Gewaltverbrechen zu. Zunächst glaubt Leo an einen Irrtum, stellt jedoch fest, dass ein Serientäter am Werk ist. Mit Unterstützung von Raisa fängt Leo an, nachzuforschen und unbequeme Fragen zu stellen. Doch bald muss er feststellen, dass das System, an das er glaubte, sich nun radikal gegen ihn stellt. Denn im „Paradies“ darf es kein Verbrechen geben. Eine grausame Geschichte in einem autoritären System - das ist die Ausgangslage von KIND 44. Regisseur Daniel Espinosa verfilmte den gleichnamigen Erfolgsroman von Tom Rob Smith, der im Jahr 2008 weltweit die Bestsellerlisten stürmte, auf beeindruckende Weise und mit hoher atmosphärischer Dichte. Das Russland Stalins wird als grau, dunkel und dreckig dargestellt. In den Gesichtern der Menschen zeigt sich wenig Hoffnung, die Sicht auf die Welt ist verbaut von systemkonformen Parolen, die freie Gedanken und selbstständiges Denken verhindern sollen und den Menschen in den Dienst eines Systems stellen. Diese inneren und äußeren Konflikte spiegelt die Hauptfigur Leo, die mit Tom Hardy ideal besetzt ist, perfekt wider. Sein stoischer Gesichtsausdruck lässt kaum Gefühlsregungen erkennen, seine bullige Körperhaltung signalisiert Stärke und Entschlossenheit. Umso beeindruckender, wenn Momente der Erkenntnis und Verletzbarkeit sich in seiner Mimik reflektieren. Dann sieht man die Gebrochenheit eines Mannes, der alles verliert, an das er bisher glaubte und um sein Leben und das seiner Familie kämpft. Die restliche Besetzung überzeugt bis in die kleinste Rolle mit großartigen Charakterdarstellern. Noomi Rapace als Raisa entwickelt sich von einer duldenden Frau ohne Stimme zur Kämpferin an Leos Seite. Gary Oldman als Ermittler wird zum Mentor und zur inneren Stimme Leos, die ihm den Weg weist. Und Joel Kinnaman spielt den intriganten Rivalen eindrucksvoll mit Kälte und Verbissenheit. Im dicht gewebten Handlungsverlauf vermischt das Drehbuch von Richard Price geschickt klassische Thrillerelemente mit dem dramatischen gesellschaftskritischen Überbau aus der Buchvorlage. Je länger der Film dauert, desto spannender werden die Fragen, desto komplexer die Verwicklungen, bis hin zum Showdown, der so nah inszeniert ist, dass er auch für den Zuschauer fast körperlich spürbar wird. Jon Ekstrand liefert einen dramatisch treibenden Score, die exzellente Kamera von Oliver Wood fängt authentische Bilder ein, die die Welt und das System von damals erfahrbar werden lassen. Mit KIND 44 ist Daniel Espinosa nicht nur eine kongeniale Literaturverfilmung gelungen. Sondern auch ein wichtiger gesellschaftskritischer Film, der aufklärt über eine Zeit, in der ein System sich über alles stellte. Sogar über die Wahrheit.
Jurybegründung:
Der gleichnamige Bestseller des britischen Schriftstellers Tom Rob Smith lieferte die Vorlage für einen außergewöhnlich spannenden und intelligenten Thriller, der den Zuschauer in die Sowjetunion Stalins Anfang der 1950er Jahre führt. Dass Drehbuchikone Richard Price und Ridley Scott als Produzent hinter dem Film standen, bestätigt dessen dramaturgische Qualität, was auch für die gute Inszenierungskunst von Daniel Espinosa gilt. Mit Tom Hardy, Noomi Rapace, Gary Oldman und Vincent Cassel hat der Film eine Besetzung aufzuweisen, welche man als authentisch und außergewöhnlich gut bezeichnen muss, und auch ihr Spiel ist exzellent.
Tom Hardy spielt Leo angenehm zurückhaltend und auch mit allen seinen dunklen Facetten. Als Kriegsheld durfte er bei der Schlacht um Berlin auf dem Reichstag die Flagge der Roten Armee befestigen und konnte später in Moskau zum Lohn als Geheimdienstoffizier Karriere machen. Als er beginnt, auf eigene Faust den Mord an einem Kind aufzuklären, gerät er in die Mühlen von Obrigkeit und Geheimdienst, von Intrigen und Denunziation. Denn im Arbeiterparadies gibt es ja offiziell keine Morde.
Der Film besticht in erster Linie durch seine durchgehend zwielichtige und sehr authentische Grundstimmung. Dies durch eine hervorragende Kamera und besondere Licht- und Farbgestaltung. Man spürt geradezu die Beklemmung der Protagonisten und auch der Bevölkerungsmasse durch Überwachung, Bespitzelung und Angst vor willkürlicher Verhaftung und Deportation. Einige sehr drastische Kampf- und Gewaltszenen dienen nicht dem Selbstzweck, sondern passen sich hervorragend der düsteren Atmosphäre und dem Spiel der Protagonisten an. Die Montage, die musikalische Akzentuierung, das Szenenbild und die stimmige Ausstattung sind weitere handwerkliche Leistungen, welche ein besonderes Lob verdienen.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)