Der Anthropologe und Forscher Thor Heyerdahl überquerte 1947, zusammen mit fünf anderen Männern, in einem selbst zusammengebauten Floß den Pazifischen Ozean. Er untermauerte damit seine Theorie, dass die Besiedelung Polynesiens durchaus auch von Südamerika hätte stattfinden können. Mit dieser abenteuerlichen Expedition ging Heyerdahl in die Geschichte ein und ist seitdem nicht nur in seiner Heimat Norwegen ein Held. Bereits 1951 gewann die von Heyerdahl selbst gedrehte Dokumentation einen Oscar. Nun setzt ihm auch ein Spielfilm ein Denkmal. In europäischer Koproduktion entstand ein episches und mitreißendes Kino-Abenteuer voller Spannung und aufregender Bilder. Im Zentrum des Geschehens steht Heyerdahl, den Newcomer Pal Hagen intensiv und charismatisch verkörpert. Doch auch die Mitstreiter auf der gefährlichen und kräftezehrenden Mission vermitteln sich glaubhaft, sowohl mit ihren Schrullen und Eigenarten als auch mit ihren Schwächen und Ängsten, die immer wieder zu spannungsgeladenen Konfliktsituationen führen. Der Film lässt sich auf seine Figuren ein und findet, unterstützt von packender Musik, wunderbare Bildkompositionen für die Reise der Crew, aber auch für die Momente der Einsamkeit auf hoher See. Ein abenteuerliches und hervorragend umgesetztes Kino-Erlebnis und eine Verbeugung vor einer Legende.
Jurybegründung:
Schon als Kind war der Norweger Thor Heyerdahl (1914-2002) ein Freund waghalsiger Unternehmungen, was ihm beinahe das Leben gekostet hätte. Später lebt er für ein Jahr mit seiner Frau Liv fernab jeglicher Zivilisation auf Fatu Hiva, einer Insel der polynesischen Marquesas-Gruppe. Dort entwickelt er die Theorie, dass Polynesien von Osten her und nicht aus Asien besiedelt wurde. Nachdem er die Fachwelt nicht überzeugen kann, will er selbst den Beweis antreten und stürzt sich 1947 in ein Abenteuer, das alle bisherigen Wagnisse übersteigt: An Bord eines Floßes aus Holz sticht Heyerdahl, der nicht schwimmen kann, mit fünf Begleitern von der peruanischen Hafenstadt Callao aus in See. Ohne nautische Erfahrung und moderne Hilfsmittel (abgesehen von einem Funkgerät und einer Filmkamera) legen sie in 100 Tagen fast 8000 Meilen zurück - in steter Ungewissheit ihres Ziels und während sich das Floß unter ihren Füßen mit Wasser vollsaugt. In grandiosen Bildern schildert der Film ihre Reaktionen auf Gewitterstürme, ihre Begegnungen mit Walen, Haien, fliegenden und fluoreszierenden Fischen. Am Ende kommt in nachgestellten Schwarzweiß-Szenen aus Heyerdahls Originalfilm das besondere Fluidum dieser amateurhaften Unternehmung zum Ausdruck.
Der Spielfilm von Joachim Rønning und Espen Sandberg über Thor Heyerdahls berühmte Reise von Peru nach Polynesien auf dem Floß Kon-Tiki behandelt ein Projekt zwischen Wissenschaft und Wahnwitz. Mit großer visueller Kraft, packenden Action-Szenen und hervorragenden Darstellern zeigt er das Unternehmen als episches Abenteuer und feiert die Leistung aller Beteiligten, ohne Ängste und Enttäuschungen zu verschweigen.
Dabei bewegt er sich auf schmalen Grad, denn die aufwändige europäische Co-Produktion ist eine besondere Mischung aus Abenteuerfilm und Filmbiografie. Die dramatischen Geschehnisse wurden nicht von Drehbuchautoren erdacht, sondern haben tatsächlich stattgefunden. Obwohl Thor Heyerdahl mit seiner wagemutigen Reise seine Theorie der Besiedlung Polynesiens nicht beweisen konnte, begründete das Unternehmen seinen Ruf als Forscher und Praktiker der experimentellen Archäologie. Das Buch, das er über die Reise schrieb, wurde in 67 Sprachen übersetzt, und der Film, den er an Bord drehte, wurde 1952 mit dem Oscar als Bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Dadurch wurde Thor Heyerdahl weltweit einem breiten Publikum bekannt, das somit weiß, dass bei dem Abenteuer niemand zu Schaden kam.
Es ist das große Verdienst von Rønnings und Sandbergs Film, dass er den historischen Ereignissen und den Charakteren treu bleibt und diese nur sehr moderat im Sinne einer modernen Spielfilmhandlung dramatisiert. Er orientiert sich in einzelnen Begebenheiten stark am Original-Dokumentarfilm. Doch während Heyerdahl selbst eher die Entspanntheit der Reise betont, legen Rønning und Sandberg mehr Gewicht auf die spektakulären Momente. Die Naturgewalten und die Begegnungen mit Haien und Walen erscheinen hier - in perfekter Computeranimation - wesentlich gefährlicher, und Konflikte der Besatzungsmitglieder untereinander bleiben nicht ausgespart.
Dass diese sich aber in Grenzen halten, mag an dem großen Charisma Heyerdahls gelegen haben, der unerschütterlich an sein Projekt glaubte und aufkommende Zweifel zerstreute, aber auch daran, dass er die Crew mit Freunden und Weggefährten bestückte. Mit Erik Hesselberg war er seit Kindertagen befreundet, mit Knut Haugland und Torstein Raaby teilte er die Erfahrung des Widerstands im Zweiten Weltkrieg. Diese Erfahrung und das daraus resultierende Trauma werden im Film in der Person des Knut Haugland thematisiert, der nicht nur unter Seekrankheit, sondern auch unter seinen „Dämonen“ leidet - bis er dem ins Meer gestürzten Herman Watzinger das Leben rettet. Watzinger ist als Zweifler angelegt, der als Ingenieur lieber modernen Materialien vertraut als überlieferten Konstruktionsprinzipien und deshalb Stahlseile an Bord schmuggelt. Dieser Darstellung wurde von seiner Familie energisch widersprochen und sie sorgte in Norwegen für große Diskussionen.
Im Mittelpunkt steht Thor Heyerdahl selbst, im Film sensibel und charismatisch verkörpert von Pål Sverre Valheim Hagen. Er ist Forscher und Abenteurer zugleich, der in völliger Überzeugung von seiner Theorie hohe persönliche Risiken eingeht. Er lässt seine Familie zurück, bringt Freunde in Gefahr, setzt Geld und Leben aufs Spiel. Aber er ist auch ein früher Medienprofi: Er nimmt eine Filmkamera mit an Bord, und durch seine Funksprüche hält er das Interesse und den Geldfluss am Laufen. Durch den glücklichen Ausgang des Unternehmens und seine geschickte mediale Vermarktung wurde Thor Heyerdahl zum norwegischen Nationalhelden und rückte für das kleine Land, das damals gerade mal 3,5 Millionen Einwohner hatte und noch schwer von den Erfahrungen und Folgen des Zweiten Weltkriegs gezeichnet war, in eine Reihe mit den großen Forschern und Entdeckern Fridtjof Nansen und Roald Amundsen, die in der Zeit der Staatsgründung 1905 wesentlich zur Bestätigung der nationalen Identität beigetragen hatten.
Es ist schön, dass man am Ende des Films zu schwarz-weiß-Bildern vom weiteren Werdegang der Expeditionsteilnehmer erfährt. Dass es sich dabei nicht um Aufnahmen aus dem Dokumentarfilm, sondern um nachgedrehtes Material handelt, ist dadurch gerechtfertigt, dass diese Filmaufnahmen den Spielfilm als wichtiges gestalterisches Element durchziehen und die Zuschauer, die über 100 Minuten die Schauspieler in ihren Rollen begleitet haben, eher irritiert wären, am Ende „andere“ Personen zu sehen. KON-TIKI, der Spielfilm von Joachim Rønning und Espen Sandberg, ist bestens geeignet, einem heutigen Publikum die Entdeckerpersönlichkeiten nahe zu bringen und Fragen nach dem Sinn und den Risiken von Expeditionen und Rekordversuchen zu erörtern.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)