Land der Wunder: Wunderbar beobachtetes italienisches Drama über eine Familie auf dem Land in Umbrien in den Achtzigerjahren, die an sich selbst und einer Fernsehshow zu zerbrechen droht.
Wunderbar beobachtetes italienisches Drama über eine Familie auf dem Land in Umbrien in den Achtzigerjahren, die an sich selbst und einer Fernsehshow zu zerbrechen droht.
Mit „Wunderwerk“ lässt sich der Titel der zweiten Regiearbeit der erst 32-jährigen Italienerin Alice Rohrwacher übersetzen, was auch ganz gut auf den Film selbst zutrifft, der sich dem Kino der Dardenne-Brüder und damit unbedingtem Realismus verpflichtet fühlt, aber doch ganz wundersam in die Erlebenswelt seiner 14-jährigen Hauptfigur eindringt. So erzählt der Film mit ganz unmittelbaren Bildern, die immer nah an ihren Figuren bleiben, von einer Bauernfamilie Ende der Achtzigerjahre mitten in Italien, die sich seinerzeit wohl aus radikalen politischen Gründen von der Gesellschaft losgesagt hat und mittlerweile einfach nur frei und nach eigenen Regeln auf ihrem Hof von der Honigherstellung lebt. Klar ist die Rollenaufteilung: Wolfgang ist der deutschstämmige Patriarch, der mit eiserner Faust über sein kleines Königreich herrscht und unter dessen schwelender Wut und Aggression der Rest der Gemeinschaft zu leiden hat: seine deutlich gebildetere Frau, ihre vier Töchter und eine deutsche Freundin, die immer schon zum Familienverband zu gehören scheint und deren Rolle sich auch nicht wirklich erschließt.
Der offenkundig autobiographisch gefärbte Film rückt die älteste Tochter Gelsomina - so hieß auch Giulietta Masinas Figur in Fellinis „
La strada„, die ihrerseits einer dominanten Vaterfigur in inniger Hassliebe verbunden ist - in den Mittelpunkt, eine 14-Jährige, die ihrem Vater bei allen Arbeiten stets zur Hand gehen muss, aber innerlich gegen die rigorose Weltsicht aufbegehrt, weil sie eigene Bedürfnisse zu entdecken beginnt. Als ein schwer erziehbarer Junge in die Obhut der Familie gegeben wird, damit die sich ein bisschen Geld dazu verdienen und damit womöglich auch den eigenen Hof retten kann, beginnt das fragile Gefüge aus den Fugen zu geraten. Zur offenen Konfrontation kommt es schließlich, als Gelsomina die Familie zu einem Wettbewerb in einer lokalen Realityshow anmeldet.
Toll beobachtet ist der Film, der oftmals dokumentarische Züge trägt, wenn man den Menschen bei ihrer Arbeit zusieht. Erst spät in der Handlung beginnt das Wunder zu wirken, von dem im Titel die Rede ist, beginnen nicht leicht erklärbare Dinge und Bilder in den Alltag zu fließen: Veränderung ist unausweichlich, Entscheidungen müssen getroffen werden. „Le meraviglie“ sollte ursprünglich beim 67. Festival de Cannes in Un certain regard gezeigt werden und wurde von Thierry Frémaux erst am Tag vor Bekanntgabe des Programms in den Wettbewerb aufgenommen. Da wirkte er auch ein bisschen überfordert, als würde diesem kleinen, scharf betrachteten Film eine etwas zu große Last aufgebürdet werden. Der Jury um Jane Campion war der Film dennoch der Jurypreis wert. Und ein Talent, das man im Auge halten sollte, ist Alice Rohrwacher allemal. ts.