Die mit Spannung erwartete zweite Regiearbeit von Jan-Ole Gerster mit einer überwältigend spielenden Corinna Harfouch in der Hauptrolle einer 60-jährigen Frau, die sich selbst ein Geburtstagsgeschenk macht und wildfremde Menschen zum Konzert ihres Sohnes einlädt. Doch dieser will sie dort gar nicht sehen.
Der Tag ihres 60. Geburtstages beginnt für Lara mit einem Klingeln an der Tür. Sie soll Zeugin sein bei einer Hausdurchsuchung. Doch Lara ist bereits im Vorruhestand - und genau das möchte sie auch heute haben: ihre Ruhe. Vor allem, weil ihr Sohn, ein berühmter Pianist, an diesem Abend ein großes Klavierkonzert in der Stadt gibt. Lara selbst ist nicht eingeladen. Kurzerhand entschließt sie sich, sämtliche Restkarten zu kaufen und diese an jeden zu verteilen, dem sie an diesem Tag begegnet. LARA ist Jan-Ole Gersters zweite Langfilmregiearbeit, die unter Beweis stellt, dass der Regisseur, der schon OH BOY zu einem Filmereignis werden ließ, einen ganz eigenen Ton setzen kann. Gerster und sein Kameramann Frank Griebe begleiten eine überwältigend spielende Corinna Harfouch als Lara durch die Straßen Berlins, einer Stadt, die Gerster wie eine zusätzliche Hauptfigur inszeniert. Fließend laufen die einzelnen Sequenzen, Begegnungen und Ereignisse ineinander über, die Dialoge wirken ungezwungen und fast schon wie improvisiert, auch Blicke und Gesten erscheinen ganz natürlich, auch wenn spürbar ist, wieviel detaillierte Nuancen in Inszenierung, Licht- und Tonsetzung stecken. Zu den stärksten Momenten gehören die Auseinandersetzungen zwischen Lara und ihrem Sohn Victor, den Tom Schilling gewohnt intensiv und gefühlvoll spielt. Hier machen Gesten und Blicke Gefühle zwischen Mutter und Sohn deutlich, ohne diese in Worte packen zu müssen. Geschickt spielt das Drehbuch von Blaz Kutin mit Erwartungen, die mal amüsanten, mal berührenden, mal frustrierenden Begegnungen wirken nie vorhersehbar und die Figuren sind stets ambivalent, sie erzählen vom Scheitern, vom Bedauern, aber auch von der Hoffnung und dem Drang zum Leben. Die subtile Spannung, die den Zuschauer keine Minute loslässt, und eine faszinierende und starke Protagonistin machen LARA zu großem deutschen Kino.
Jurybegründung:
Von einem Tag im Leben einer Frau wird hier erzählt. Es ist der 60.Geburtstag von Lara, und der Film beginnt damit, dass sie sich morgens in ihrer Wohnung aus dem Fenster stürzen will. Wer diese Frau ist, wird hier mit einer bewundernswerten Tiefe und Komplexität offenbart. Auf einer Ebene ist dies dem bemerkenswerten Drehbuch geschuldet, in dem Blaz Kutin geschickt mit den Informationen, die er dem Publikum gibt, haushält, sodass Spannung zuerst dadurch entsteht, dass die Zuschauer verstehen wollen, warum diese Frau sich so seltsam benimmt und warum sie so ruppig und scheinbar rücksichtslos mit ihren Mitmenschen umgeht. Wie beim Schälen einer Zwiebel werden immer mehr Schichten ihrer Persönlichkeit deutlich, und dabei fließt der Erzählfluss so stark und natürlich, dass der Zuschauer ihm ständig mit zunehmender Faszination folgt. Jede Einstellung ist handlungstreibend, und es ist spürbar, wie gut sich Kutin in den Milieus auskennt, von denen er da erzählt. Zuerst scheint dies der etwas miefige Lebensbereich der städtischen Verwaltung zu sein, doch einzelne, geschickt gesetzte Hinweise (das fehlende Klavier in der Wohnung, das „Klimpern“ des Sohnes, das der Nachbar nicht mehr hört) deuten darauf hin, dass hier vor allem von Musikern erzählt wird, genauer gesagt von Virtuosen des klassischen Pianos. Davon wie sie ausgebildet werden, wie sie sich als Künstler durchsetzen oder scheitern und wie die ständige Angst vor eben jenem Scheitern ihr Leben bestimmt. Jan-Ole Gerster hat sich diese Geschichte gänzlich zu Eigen gemacht, und so gelingt ihm eine in allen Details und den vielen verschiedenen Stimmungen, die der Film heraufbeschwört, intensive und inspirierte Inszenierung. Da gibt es keinen falschen Ton, und obwohl seine Protagonistin nie um die Sympathie des Publikum buhlt, kommt man ihr im Laufe des Films sehr nah und versteht, wie großs ihr Schmerz sein muss, wenn man mit ihr erkennt, warum sie solch ein falsches Leben gelebt hat. Corinna Harfouch spielt hier eine ihrer wichtigsten, wenn nicht die bisher größste Rolle ihres Lebens. Sie ist in jeder Einstellung des Films zu sehen und spielt sämtliche Sequenzen mit einer grandiosen Energie und Intensität. Man glaubt ihr, dass Lara, so wie sie sie verkörpert, mit einem einzigen Wort das Selbstbewusstsein ihres Sohnes so erschüttern kann, dass dieser sich kaum traut, die Chance seines Lebens, nämlich die Uraufführung einer seiner Kompositionen, wahrzunehmen. Diese Frau scheint alles durchschauen zu können, während ihr eigenes Leben sich für sie als ein riesiger blinder Fleck erweist, und genau dieses Dilemma bildet den tragischen Kern des Films.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)