Passagiere der Nacht: Drama um eine Frau, die mit ihren Kindern einen Neuanfang wagt.
Der Pariser Regisseur Mikhaël Hers gehört zusammen mit Künstlern wie Guillaume Brac („Á l’abordage“, „Tonnerre“) zu einer Generation französischer Filmemacher, die in Deutschland leider noch viel zu unbekannt sind. Aber Hers rückt jetzt zum Beispiel durch den Berlinale-Wettbewerbsslot für „Les passagers de la nuit“ („The Passengers of the Night“) und seiner prominenten Hauptrolle von Charlotte Gainsbourg etwas mehr in den Fokus. Hers wie auch Bracs größte Stärke ist es, im Alltag und dem Gewöhnlichen die Poesie zwischen den Zeilen zu finden. Dabei erinnern sie ein Stückweit auch an die Nouvelle Vague, nur ohne deren Willen, mit den formalen Regeln zu brechen.
Mikhaël Hers reüssierte vor zwei Jahren mit dem einfühlsamen „Mein Leben mit Amanda“ in Venedig, wo das familiäre (Patchwork-)Leben nach einem Terroranschlags im Mittelpunkt stand. Im neuen Werk „Les passagers de la nuit“ geht es um Elisabeth (Charlotte Gainsbourg), die gerade im Paris Anfang der 1980er-Jahre von ihrem Ehemann verlassen wird und bei einer Nacht-Call-in-Sendung im öffentlich-rechtlichen Radio France 2 zu arbeiten beginnt. Moderatorin ist die Westen tragende, etwas herrische Vanda, gespielt von Emmanuelle Béart. Elisabeth hat zwei halberwachsene Kinder (Quito Rayon-Richter, Megan Northam) und nimmt vorübergehend den drogenabhängigen Radiogast Talulah (Noée Abita) bei sich auf.
Der Schreiber dieser Zeilen sieht sich außer Stande, den daraus entstehenden Film objektiver beurteilen zu wollen, weil hier einfach sehr viel vom französischen Kino zusammenkommt, was das Ganze zu einem Geschenk werden lässt: eine große Leichtigkeit im Erzählen; viel Empathie für nahezu alle Figuren; Fußball-Klassiker auf krisseligem TV-Bild; Jugendliche, die sich heimlich über den Hintereingang ins Kino schleichen, bei dem späten Eric-Rohmer-Meisterwerk „
Vollmondnächte“ aber im falschen Film landen und ihn trotzdem lieben - und wie diese Jugendliche dann später an das viel zu frühe Ende der „Vollmondnächte“-Hauptdarstellerin Pascale Ogier erinnern.
Es gibt in diesem Paris Nachbarn, die zu laut Kim Wildes „Cambodia“ hören, was aber nicht stört, sondern zum Mitsingen anregt; es gibt auch wunderschöne Nachtfahrten auf dem Motorrad, dokumentarisch reingeschnittene Original-Aufnahmen von Paris in den 1980er-Jahren, die den Film, der offensichtlich stark von Mikhaël Hers eigenen Jugenderinnerungen herrührt, noch lebendiger und atmosphärischer machen; Gainsbourg und Beart im Zusammenspiel; unzählige kleine und große, meist unglücklich endende Liebesgeschichten und doch ein so großes Cineasten-Herz, dass das Ganze einer Umarmung des Lebens, der Krisen und der Familie gleichkommt.
Michael Müller.