Das Altwerden ist für das Kino ein noch relativ neues Thema, vielleicht hat Michael Hanekes Studie einer Zweisamkeit bis zur bitteren Neige auch deswegen die Goldene Palme von Cannes 2012 gewonnen. Dabei hätten ebenso die Darstellungen von Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva den Hauptpreis verdient, denn in den langen Einstellungen des beinahe komplett in einer Pariser Wohnung spielenden Films "Liebe" lastet die Verantwortung für Gefühl und Lebendigkeit fast nur auf ihren Schultern. Die beiden Schauspieler leisten Unglaubliches, und sie reichern Hanekes kühlen, dokumentarisch-sezierenden Realismus mit einer tiefen menschlichen Wärme an.
Sollen sich alte Menschen diesen Film antun? Auch Anne und Georges weigern sich ja, solange es nur geht, die Tragik ihrer Lage anzuerkennen. Am Anfang besuchen sie noch gänzlich unbeschwert ein Konzert und ihre Dialoge nach der Heimkehr sind von einer heiteren, kultivierten Höflichkeit. So wie dieses Paar möchte man auch alt werden, denkt man, und verfolgt bewundernd, wie es dann das Schlimme in seinen Alltag zu integrieren versucht: die halb gelähmten Trippelschritte Annes, wenn sie mit einem Arm an Georges´ Hals hängt, um vom Rollstuhl auf die Toilette gesetzt zu werden. Anne freut sich über den überraschenden Besuch ihres einstigen Klavierschülers Alexandre Tharaud, der jetzt ein berühmter Pianist ist. Aber als Tharaud, der sich selbst in seiner ersten Filmrolle spielt, danach schreibt, das Treffen sei traurig gewesen, vergeht Anne abrupt die Freude an seiner mitgeschickten Klavier-CD, als bedeute ihre Lähmung den Ausschluss aus der Gesellschaft.
Georges kämpft einen aussichtslosen Kampf gegen das Loslassen, und deshalb ist er der Richtige an der Seite von Anne, und nicht etwa eine Pflegerin wie jene, die ihr Haar bürstet, als sei es ein Widersacher. Aber wegen seiner Liebe leidet Georges ungeschützt. Er hat einen nächtlichen Albtraum, in dem er ins Treppenhaus geht und sieht, dass der Lift versperrt ist und offenbar niemand mehr auf der verwahrlosten Etage wohnt. Haneke führt das Paar in die Klaustrophobie, in eine Isolation, die das Tageslicht nicht lindern kann. Zwar kommt Tochter Eva (Isabelle Huppert) gelegentlich aus London vorbei, besorgt auch um den Vater. Doch der lässt sich die Verantwortung nicht abnehmen.
Der französischsprachige Film ist in zwei atmosphärisch unterschiedliche Teile gegliedert, wobei die krude Verzweiflung im zweiten ohne die Geborgenheit, die der erste ausstrahlt, eine Zumutung wäre, die man zurückweisen müsste. Die Wohnung spiegelt den intellektuellen und künstlerisch interessierten Lebensstil des Paares, mit ihren Leseecken, Bücherwänden, gemütlichen Fauteuils und dem Klavier. Man kann sich kaum sattsehen an der gediegenen Einrichtung, richtet sich in der Fantasie dort mit ein, setzt sich ans Bett des Ehepaars und stellt sich vor, wie es wäre, die Lesebrille wie Anne ebenfalls nur mit einer Hand greifen zu können, mit der Hand, die auch das Buch aufschlagen muss.
Die Zeit verändert ihre Ausdehnung in diesen langen Einstellungen, wird relativ, scheint sich dem Alter anzupassen. Aber dabei ist sie nur indifferent, verweigert Halt und Orientierung. Bis der Film zu Ende ist, ist man dieser Wohnung gründlich überdrüssig geworden, sie sieht grau, verlebt und trostlos aus.
Fazit: In Michael Hanekes Drama Liebe begleitet ein alter Mann seine Frau vorbehaltlos durch alle Phasen ihres Verfalls.