Deutschland im Mai 1945. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, die Verfolgung der Nazi-Kriegsverbrecher beginnt. Auch der Vater der 15jährigen Lore wird verhaftet. Seine Frau folgt ihm bald, lässt Lore sowie ihre vier kleinen Geschwister zurück. Alleine müssen sich die Kinder auf den Weg durch das zerstörte und besetzte Deutschland schlagen, vom Schwarzwald bis nach Norddeutschland. Für Lore ist es das Ende ihrer unbeschwerten und privilegierten Kindheit. Und auch das Ende einer nationalsozialistischen Ideologie, mit der sie aufgewachsen ist und die sie nur schwer aufgeben kann, selbst als sie dem Juden Thomas begegnet, der ihr und den Geschwistern helfen will. Das fesselnde Drama der australischen Regisseurin Cate Shortland erzählt dieses deutsche Nachkriegsschicksal komplett aus Sicht der Kinder. Dadurch wirkt das Grauen härter und die Folgen des Krieges mit all seinen Entbehrungen noch schonungsloser. Dennoch erlaubt Shortland Bilder und Momente voller sinnlicher Schönheit, voller Farbenpracht und hellem Licht. Saskia Rosendahl in der Hauptrolle als Lore ist eine echte Entdeckung. In ihrer Darstellung gelingt der schmale Grat zwischen anerzogener Disziplin und einer verletzten kindlichen Seele. Doch auch die anderen Schauspieler, allen voran die Kinder, leisten Hervorragendes. Am Ende muss Lore erkennen, dass die Welt, an die sie bisher glaubte, zerbrochen ist. Doch das Leben geht weiter. Ein eindringlich erzählter und wichtiger Film, der von den unschuldigsten Opfern des Krieges erzählt: den Kindern.
Jurybegründung:
April 1945. Eine Familie in Deutschland in den Stunden der Agonie des NS-Staates. Der Vater, ein SS-Offizier, beteiligt an Massenmorden in Weißrussland, setzt sich ab. Die Mutter stellt sich später der Besatzungsmacht und schickt die älteste Tochter Lore und ihre vier Geschwister auf eine Odyssee durch das zerstörte Land.
Die australische Regisseurin Cate Shortland, beeindruckt von dem so radikal „anderen“ Spiegel deutscher Geschichte in dem Roman „Die dunkle Kammer“ von Rachel Seiffert, notiert: „Lores Seelenlandschaft hat mich fasziniert: ein erschreckender Ort. Die Geschichte war mir wichtig, im Hinblick darauf, was es bedeutet, das Kind von Tätern zu sein.“
Die Regisseurin bekennt, mit ihrem Film in Grauzonen vorgestoßen zu sein. Lore glaubt an die NS-Ideologie. Hitler als die eigentliche Vaterfigur. Als sie die Wahrheit, oder zumindest Partikel der schrecklichen Wahrheit, zu erkennen beginnt, setzt eine Katharsis unter extremen Zwängen und in einer Zeit und Umwelt des Faustrechts, der Wolfsgesetze und der schon wieder einsetzenden Verdrängung ein. In Deutschland später als die „Stunde Null“ apostrophiert, wie zwiespältig dieser Terminus auch immer sein mochte. Die „neue Zeit“ - wie wird sie sein? Lores bisherige Welt liegt in Scherben und Trümmern. Gesten der Menschlichkeit sind noch rarer als die Scheibe Brot.
LORE ist sicherlich ein unbequemer Film, der keine einfachen Lösungen offerieren will. Er ist eine geschichtliche Beschwörung der besonderen Art, eine Erinnerung, die schmerzt. Nennen wir sie eine bittere Medizin.
Realisiert ist dieses visionäre und verstörende Geschichtsbild mit einem kompromisslosen Gestaltungswillen, mit einer Passion für suggestive Metaphern, mit einem Faible für ästhetisierende Überhöhungen - und mit einer beeindruckenden Saskia Rosendahl als Lore (vielleicht die Entdeckung dieses Filmherbstes!).
Cate Shortlands Film kann die gleiche Qualität bescheinigt werden, die einst den Romanen eines Gert Ledig zum Nachruhm verhalf: „Das Fehlen jeder metaphysischen Absicherung, die ungeschönte Bilderfülle der Hölle auf Erden.“
Vergleichbar auch mit dem einstigen Credo des Autors Ledig: „Charaktere in dem luftleeren Raum nach der Katastrophe zu zeigen, in einer gesellschaftslosen Zeit, in der sich der Mensch bis zur Selbstentblößung entblößt zeigt.“
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)