Frankreich, in den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Regelmäßig bittet Marguerite Dumont Besucher in ihr Landhaus, zu Tee, Häppchen und Gesangsdarbietungen. Den Starauftritt behält sie sich stets selbst vor. Und die Besucher sind begeistert. Vor allem jedoch von den anderen Sängern. Denn Marguerite Dumont kann keinen Ton gerade herausbringen. Aber niemand hat den Mut, ihr dies offen zu sagen. Ihr Mann will einfach nur seine Ruhe haben. Die Menschen, die sie unterstützt, nutzen sie lieber aus als ihre Freunde zu sein. Und ihr ergebener Diener Madelbos sieht es als seine Aufgabe an, seine Herrin vor jeglicher Kritik abzuschirmen. Und so verbrennt er negative Presseberichte, besticht Kritiker und unterstützt Madame in ihrem Selbstbetrug. Als Marguerite jedoch plant, ein Konzert vor richtigem Publikum zu geben, ist guter Rat teuer: Wie lange wird es dauern, bis sie dahinter kommt, dass sie all die Jahre an ein Talent glaubte, welches sie nicht besitzt? Von brüllend komisch über berührend bis hin zu tief tragisch: Dem Film von Xavier Giannoli gelingt es, in zwei Stunden so viele Facetten der Tragikomödie anzuschlagen, wie es selten der Fall ist. Inspiration fand der Regisseur in der wahren Geschichte der „schlechtesten Sängerin der Welt“, Florence Foster Jenkins, die in den 1930er und 1940er Jahren mit ihrer „Kunst“ in Amerika für Furore sorgte. Doch Giannoli verlegt die Handlung in das Paris der 1920er Jahre und nutzt die Gelegenheit, auch auf gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen der Zeit einzugehen. Die Jugend wendete sich ab von den Traditionalisten und der Bourgeoisie - Dadaismus und moderne Musik standen klassischen Künsten revolutionär gegenüber. Verkörpert wird diese Generation von den beiden Journalisten Lucien und Kyril und der jungen Musikerin Hazel, allesamt wunderbare Puzzlestücke in einem herrlich schimmernden Figurenpanoptikum. Doch im Zentrum schimmert immer die tragische Heldin der Geschichte, Marguerite. Catherine Frot ist sensationell in ihrem Spiel. Ihr gelingt es mit präziser Darstellung die Naivität von Marguerite zu verkörpern, ohne sie je der Lächerlichkeit preiszugeben. Denn Marguerite ist warmherzig, mitfühlend und in ihrer Einsamkeit eine tieftraurige Figur. Sie sehnt sich nach der Liebe ihres kalten abweisenden Mannes, nach Freunden, die sie niemals hatte und nach Respekt, der ihr verwehrt bleibt. Denn jeder nutzt sie aus und liebt sie nie um ihrer selbst willen. Diese Tragik sieht man eingeschrieben in Marguerites Gesicht und die formidable Kamera von Glynn Speeckaert fängt sie gekonnt ein. Faszinierend sind zudem Ausstattung und Kostüm des Films, die den Zuschauer eintauchen lassen in die schillernde Welt der goldenen Zwanziger Jahre. MADAME MARGUERITE ODER DIE KUNST DER SCHIEFEN TÖNE ist eine kluge Reflektion über moderne Kunst, die Avantgarde und die Macht der Medien. Und dazu ein unterhaltsames und tief berührendes Porträt einer beeindruckenden Frau, die sich allem Spott zum Trotz eines niemals nehmen ließ: die Leidenschaft und Liebe zur Musik.
Jurybegründung:
Frankreich 1920: Madame Marguerite ist eine wohlhabende und wohltätige Adlige, die ihre Wohltätigkeitsveranstaltungen dazu nutzt, vor einem erlauchten Kreis ihre eigene Gesangskunst zum Besten zu geben. Das Problem: sie kann gar nicht singen. Vielmehr hat sie die bemerkenswerte Gabe, jeden Ton schief zu singen. Ihrem Mann ist das unendlich peinlich. Lucien und Kyrill, die beiden jungen Wilden aus Paris, sehen in Madame Marguerite die Verkörperung ihrer eigenen programmatischen Absage an die Schönheit in der Kunst. Außerdem kann Madame Marguerite ihnen sozusagen als Mäzen noch von Vorteil sein. Lucien ist zusehends gerührt von dieser Frau, deren Unkonventionalität sowohl etwas Erfrischendes als auch etwas Trauriges in sich birgt. Er kümmert sich um sie, arrangiert für Marguerite eine Gesangsausbildung und initiiert ein öffentliches Konzert in Paris. Doch leider nimmt der Plan kein gutes Ende.
Xavier Giannolis Historien- und Musikfilm ist nicht zuletzt durch die hinreißende Catherine Frot in der Titelrolle ein überaus berührender Film und darüber hinaus auch eine Kunst- und Medienreflexion. Der Film ist gespickt mit Anspielungen auf die Kunstszene im Paris zu Beginn der 1920er Jahre, eine Zeit, in der nicht nur dort (auch) infolge der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges die Schönheit in der Kunst in Frage gestellt wurde. Madame Marguerite verkörpert das Extrem dieser Idee, denn sie singt ja nicht nur schlecht, sondern derart schief und falsch, als stehe ein anti-künstlerisches Programm dahinter. Zudem werden elementare Merkmale des Theaters, der Inszenierung, der Medien Film, Fotografie und Grammophon reflektiert, jedoch ohne zu theoretisch, zu verkopft zu geraten. Die erzählte Geschichte wird nie vernachlässigt, auf sie wird sogar genauestens geachtet. Dem entspricht auch, dass nichts, was passiert, vorhersehbar ist, der Film fortwährend mit überraschenden Wendungen aufwartet.
Es ist eine Zeit, in der die Künste gezwungen wurden, ihre Konventionen abzulegen, aber nicht nur die. Madame Marguerite widersetzt sich ja auch den Konventionen einer guten Ehefrau, denn sie entspricht in keiner Weise den Wünschen ihres Mannes, der sie zwar liebt, sich ihrer aber auch schämt. Dass der Film am Schluss nahelegt, Madame Marguerites Problem sei ein psychisches, das im Liebesentzug durch ihren Mann begründet sei, schränkt den emanzipatorischen Gehalt des Films kaum ein. Xavier Giannoli ist ein anspruchsvoller und emotional berührender Film gelungen.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)