Immer, wenn die Mutter ihre drei Kinder zum Essen rief, hieß es: „Die Jungs und Guillaume, bitte zu Tisch!“ Denn für sie war Guillaume nie ein Junge, sondern irgendwie auch die Tochter, die sie nie hatte. Guillaume führte sich auf wie ein Mädchen, sprach wie eines, war anhänglich und sehr sensibel. Also musste er natürlich schwul sein. Für Guillaume ist das bis heute problematisch. Denn nicht nur ist er nicht schwul, sondern er will endgültig beweisen, dass in ihm ein wahrer Mann steckt. Mit allem, was dazugehört. Aus den Erinnerungen seines eigenen Lebens hat der französische Komiker Guillaume Gallienne ein Bühnenstück gezaubert, welches er nun, quasi in Personalunion, auf die Leinwand überträgt. Denn nicht nur ist Gallienne Regisseur und Autor, er spielt auch beide Hauptrollen, Sohn und Mutter! Als „Muttersöhnchen“ stolpert Guillaume mit einer solch liebenswürdigen Naivität und Unschuld durch seine manchmal sehr skurrilen Begegnungen auf der Suche nach dem Mann in sich, dass man ihn am liebsten beschützen möchte. Und als dominierende „Maman“ zeichnet er auf subtil-ironische Weise eine Mutterfigur, die sich hinter ihrer Fassade aus Arroganz und Dominanz versteckt, um ihre Angst vor dem Verlust ihres Lieblingssohnes zu verbergen. Die einzelnen Ereignisse erzählt Gallienne auf einer Theaterbühne und präsentiert so dem Publikum - und damit auch dem Zuschauer - seine Erinnerungen. In dieser reduzierten Form erinnert sein Film im besten Sinne an frühe Werke von Woody Allen und besticht durch seine herrlich ironische Reflexion der eigenen Biografie. MAMAN UND ICH ist grandiose französische Unterhaltung: Manchmal herrlich schräg und schrill, doch immer auch liebevoll und warmherzig. Ein Geniestreich!
Jurybegründung:
Eine Komödie mit besonderem Gehalt, einem großartigen Hauptdarsteller in zwei tragenden Rollen und einem immer aktuellen Thema: der Suche nach der sexuellen Identität.
Der Originaltitel des Films „Les garcons et Guillaume, à table“ weist deutlicher aufs Thema hin, als seine deutsche Übersetzung. Denn Guillaume Gallienne wurde immer genau so zu Tisch gerufen, er war zwar ein Junge, hatte aber den Wunsch seiner Mutter nach einer Tochter so nachhaltig in sich aufgenommen, dass er viele Jahre seines Lebens von seiner Familie für homosexuell gehalten wurde, begleitet von zahlreichen Therapieversuchen und vielen Missverständnissen. Nach der erfolgreichen Bühnenshow gleichen Titels hat Gallienne nun als Regisseur und in zwei Rollen, als er selbst und der seiner Mutter, einen ebenso unterhaltsamen wie humorvollen und dennoch tiefgehenden Film geschaffen.
Seine Rolle in dieser Tragikomödie spielt er nicht, er lebt sie, und nur so ist zu erklären, dass dieser Film wie ein wahres Kunstwerk überzeugt, den Zuschauer mitnimmt in die Welt, wie Gallienne sie als Kind wahrnahm. Seine Mutter, eine dominante und selbstbewusste Frau, wird dabei von ihm selbst durchaus liebevoll dargestellt und um dieser Liebe, die er als Sohn empfindet, den richtigen Ausdruck zu verleihen, bemüht er sich, Mama Freude zu bereiten. So wird er von der Familie alsbald in die homosexuelle Ecke gestellt, was dem Film Gelegenheit gibt, immer wieder von Neuem großartig mit all den Klischees, Vorurteilen und Ängsten zu spielen, die dem Thema innewohnen.
Symbolische Szenen fehlen ebenso wenig wie gängige, in vielen Filmen zitierte Eindeutigkeiten.
Gallienne findet wunderbare Vergleiche, die belegen, wie schwer es sein kann, aus der einmal zugedachten Identität auszubrechen und sich selbst zu finden.
So schafft es der Film mit teilweise todtraurigen Feststellungen den Zuschauer trotzdem zum Lachen oder wenigstens zum Schmunzeln zu bringen. Die Suche nach seiner sexuellen und damit menschlichen Identität führt Gallienne immer wieder zu neuen Höhepunkten der menschlichen Komödie. Die großartige schauspielerische Leistung, Regie und Kameraarbeit fesseln durch unerwartete Ideen.
In einem emotionalen Monolog, seinem coming out als Hetero richtet er sich an seine Mutter und erklärt ihr seine ewige Sohnesliebe mit so einfühlsamen Worten, dass neben der Komik des Moments auch die Tragik seiner Kindheit deutlich wird. Ein Film, der mit seiner besonderen Thematik eine wichtige Position einnimmt, mit seiner genialen filmischen Ausdrucksform sein Thema ernsthaft und komisch beschreibt, sein Publikum emotional abholt.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)