Grace ist zurück. Nach Dogville in Colorado kommt sie in Manderlay in Alabama an, doch es ist eine andere Grace. Nicht mehr Nicole Kidman, sondern die Newcomerin Bryce Dallas Howard, sie ist jünger, idealistischer, aktiver. Lars von Trier hat seine Manderlay-Grace trotz geringeren Alters reifen lassen an dem Trauma von Dogville, sie ist nicht mehr die langmütige Dulderin, die das Opfer dörflicher Bigotterie und bürgerlicher Grausamkeit wurde. Grace, die weiß, was Ausbeutung bedeutet, macht sich in Manderlay daran, Schwarze zu befreien, die von der alten Gutsherrin Mam unter strengem Gesetz in absoluter Unfreiheit gehalten werden, 70 Jahre nach der Sklavenbefreiung. Und sie muss feststellen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse um einiges komplizierter sind, als sie es gedacht hätte.
Der Film handelt von Rassismus, doch das ist nur die Oberfläche. Er handelt von Amerika es ist der zweite Teil der Amerika-Trilogie von Lars von Trier , doch auch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Von Trier weiß auch in Manderlay vielfältige Bedeutungs- und Deutungsschichten zu überlagern, die nicht leicht auf einen bestimmten Brennpunkt der Kritik zu fokussieren sind. Die Unfreiheit der Sklaven ist eine Ungerechtigkeit, doch ihre Freiheit wird zum Chaos, der Aktionismus von Grace ist gut gemeint und steht auf den festen Füßen des Humanismus, doch vielleicht ist Humanismus nicht für alle Menschen das Maß aller Dinge. Im Grunde zynisch stellt von Trier die Alternativen gegenüber: Freiheit und Chaos gegen Sicherheit und Sklaventum Grace ist der Geist, der nur das Gute will und stets das Schlechte schafft, die Dialektik des guten Willens.
Manderlay erreicht nicht die beklemmende Intensität von Dogville. Das mag daran liegen, dass Dogville mit seiner befremdenden Bühnenhaftigkeit einen Rausch der Innovation mit sich führt, der bei Manderlay, das diesen Mitteln nichts hinzufügen will, fehlt. Vielleicht mangelt es der sehr guten Darstellerin der Grace auch (noch) an der Erfahrung einer Nicole Kidman, die es gelernt hat, ihre charismatische Ausstrahlung zu vermitteln. Vor allem aber ist Grace hier nicht Opfer, sondern Täterin: Sie selbst ist es, die mit ihrem idealistischen Gutmenschentum den Sklaven vor allem ihre eigene Einstellung zum Leben aufdrängt, und in der Arroganz des Großzügigen den Menschen, denen sie helfen will, keine eigene Meinung zugestehen will.
Von Trier gibt die emotionale Identifikation mit Grace auf zugunsten einer distanzierteren, nüchterneren Betrachtung ihrer Handlungen: Auf die eine Seite stellt er das Unrechtssystem, das in Manderlay geherrscht hat, auf der anderen Seite laufen die unzulänglichen Aktionen von Grace völlig ins Leere. Der Verfremdungseffekt bleibt dabei erhalten, alles spielt auf einer Bühne mit spärlichen Requisiten, Hauswände sind auf den Boden eingezeichnet, und mit einem Gottesblick wird das Geschehen von einem allwissenden und ironisch distanzierten Erzähler kommentiert. Dabei kreuzt von Trier die Dogville- mit der Dogma-Ästhetik, die Handkamera geht unmittelbar und ganz direkt nah an die Handlung heran, homemovie-ähnliche Zooms, Jumpcuts, Reißschwenks erzeugen einen Eindruck von Authentizität, der mit der Künstlichkeit des Bühnenbildes kollidiert.
Von Trier erzählt eine Fabel, der die positive Moral am Ende fehlt. Ohne Zweifel trifft er mit seiner Darstellung einer Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit sehr genau auf allgemeinmenschliche Verhaltensweisen, nicht nur bezüglich Rassismus, nicht nur, ganz aktuell, bezüglich neokolonialistischer US-Politik im Irak, wo ja auch mit Waffengewalt nach Kräften das Beste für die Iraker gewollt wird, ohne es erreichen zu können. Die tieferliegende Bedeutung des zu Zeiten durchaus satirischen Diskurses liegt in der Darstellung machtvoller Gönnerhaftigkeit, oder anders: Diskriminierung ist auch der Versuch, anderen ungefragt zu helfen.
Subtil erzählt der Film auch von Gewalt, die sich vom Starken zum Schwachen fortsetzt, von der rabiaten Frau über den Ehemann hinunter bis zur schwachen Nachbarstochter. Und Grace kann ihre Ideen nur mit den Maschinenpistolen der Gangster, die sie begleiten, durchsetzen. Der Film erzählt auch vom Paradoxon der Demokratie, die sich per Mehrheitsentschluss selbst abschaffen kann: Aufklärung, schreibt Immanuel Kant, ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, und von Trier zeigt hier Menschen, denen die Aufklärung und ihre gutgemeinten Auswüchse nichts bedeuten, die in ihrer Unmündigkeit freiwillig verharren wollen wie unfrei ist ein freiwilliger Sklave?
Grace, auch darum geht es im Film, ist in all ihrer ausgestellten Wut gegen die Unfreiheit tief in ihrem Inneren geprägt von Rassismus. In ihrem Blick spiegelt sich stetig die Verwunderung darüber, dass die Sklaven, die doch nun frei sind, ja sogar besser gestellt als ihre früheren Herren, nicht dankbarer sind: das Unverständnis gegenüber denen, die man für schwächer hält. Sich und ihr Maß der Dinge zwingt sie den Negersklaven auf, ohne wirklich auf sie einzugehen, und tief in ihrem Inneren bohren erotische Träume weiblichen Chauvinismus, von kräftigen Negern mit gewaltigen Gemächten...
Fazit: Lars von Triers vielschichtige Fabel handelt nicht nur von Rassismus, sondern von den Grenzen des Humanismus.