Shannon Murphy hat mit ihrem Coming-of-Age-Drama „Milla Meets Moses“ ein erstaunlich sensibles Debüt über eine krebskranke Teenagerin geschaffen.
Zu The Stranglers‘ „Golden Brown“ sinkt ein Milchzahn wie ein toter Goldfisch im Wasserglas zu Boden. Die Streichquartett-Version der Ballade, in der es um die Wirkung von Heroin geht, nimmt gleich in der ersten Einstellung das wichtigste Thema von „Milla Meets Moses“ vorweg: (Drogen-)Sucht und Abhängigkeit spielen in Shannon Murphys Spielfilmdebüt eine entscheidende, wenn nicht die entscheidende Rolle.
Milla (Eliza Scanlen, „Little Women“, „Sharp Objects“) ist 15 und schwer krank. Sie hat Krebs, doch der Kampf gegen die Krankheit ist ein im Hintergrund ausgefochtener, beiläufiger und selbstverständlicher. Die junge Schülerin kämpft stattdessen auf einer anderen Ebene, dafür aber an vorderster Front: gegen ihr Elternhaus, gegen die Einsamkeit als missverstandene Teenagerin und für Normalität – in Anbetracht der Umstände ein fast aussichtsloser Kampf.
Als Milla am Bahnsteig dem 23-jährigen Moses (Toby Wallace) begegnet, ein Junkie auf der Suche nach Geld, kommen sich die beiden schnell näher: Das Blut rinnt ihr plötzlich aus der Nase, weshalb Moses das Mädchen förmlich zu Boden reißt und in die eigenen Arme zwingt, um mit dem durchgeschwitzten Hemd die Blutung zu stoppen – das übergriffige und rabiate Manöver, welches sich später wiederholen wird, scheint Milla nicht zu stören, im Gegenteil: Sie schleppt den Drogensüchtigen mit zu sich nach Hause.
Beim Abendessen wird schnell deutlich, dass Millas Elternhaus kein einfaches ist; der Vater (Ben Mendelsohn, „Die dunkelste Stunde“, „Star Wars: Rogue One“) Psychiater, die Mutter (Essie Davis, „Assassin’s Creed“) depressiv und von ihrem eigenen Ehemann in einen Medikamentenrausch versetzt. Abhängig ist an diesem Tisch jede*r: Milla von ihren Medikamenten, Moses von den Drogen, Millas Mutter von den Psychopharmaka und auch der Vater, der nicht Nein sagen kann, spritzt sich in der eigenen Praxis „ein kleines bisschen Morphium“. Beim Abendessen lernen wir auch, dass Milla noch einen Milchzahn hat, eine „Anomalie“, wie sie selbstbewusst erklärt. Zunächst skeptisch gegenüber Millas neuem Freund, beginnen die Eltern, ihre Hoffnungen auf ihn zu projizieren, schließlich tut er Milla gut. Sie versorgen den Suchtkranken mit Drogen, um ihn an sich zu binden und sein Erscheinen sicherzustellen – ihre psychische Abhängigkeit von Moses wiegt dabei weitaus schwerer als seine körperliche.
Der Beginn einer Liebesgeschichte
Moses wird seine Besuche auch ohne lukratives Tauschgeschäft fortsetzen, was den Beginn einer scheuen Liebesgeschichte markiert: Anfangs scheint das innige Band zwischen den beiden fast substanzlos, doch spätestens bei einer gemeinsamen Partynacht voller Eifersucht und Fürsorge kann man auch als Zuschauer*in ein Gefühl für die junge Liebe entwickeln. Selbst Milla als Figur ist zu Beginn noch schwer zu fassen, doch wenn die junge Tochter im Laufe des Films die emotionalen Facetten des Teenager*indaseins – von sensibel über rebellisch bis hin zu kindlich-wild, launisch und neugierig – durchspielt, begreift man das Ausmaß ihrer (Sehn-)Sucht nach Freiheit und ihres inneren Zwangs, sich abkapseln und lösen zu dürfen. Manchmal lässt Murphy ihre Protagonistin direkt in die Kamera blicken – es sind seltsam reizende Momente, in denen man sich als Millas Verbündete*r fühlt, als Eingeweihte*r eines Geheimnisses, das auch Millas Schicksal betreffen könnte.
Musik als Bindeglied
Murphy inszeniert das Coming-of-Age-Drama detailverliebt, in einem Kosmos aus farblich durchkomponierten Bildern setzt sie ihren Figuren verschiedenste Texturen entgegen: Knitterfalten, glatte Seide, Perückenhaar, spiegelndes Glas, schroffes Gemäuer und dunkles Holz. Die Kamera fokussiert die Gesichter der Protagonist*innen hauptsächlich in Nah- und Detailaufnahmen und vorwiegend im Profil. Dass Musik als ein wichtiges oder womöglich auch einziges Bindeglied zwischen den einzelnen Familienmitgliedern fungiert, unterstreicht Murphy mit einem wunderbaren Soundtrack, der sich nicht nur Mozart und Smetana, sondern auch zeitgenössischer Indie-Musik bedient.
So schaffen es Mutter und Tochter, sich beim gemeinsamen Musizieren wieder näherzukommen und Hoffnung zu schöpfen, auch wenn Millas Schicksal längst besiegelt scheint. Wenn diese als Folge eines physischen Kampfes mit Moses, aber vor allem eines Kampfes mit sich selbst, ihren Milchzahn verliert, ist die Metapher an dieser Stelle fast etwas zu offensichtlich geraten, denn Milla scheint in einem Strudel aus Abhängigkeiten nun die einzige zu sein, die sich aus dem komplexen sozial-familiären Gefüge tatsächlich befreien kann. Der Milchzahn, „Babyteeth“ [engl., Milchzähne], wie der Film im Original heißt, als letztes Relikt der Kindheit, hat sich mitsamt seiner Wurzel gelöst – mit allen Konsequenzen, die vor allem die anderen tragen und aushalten müssen.
Sensibel inszeniertes Debüt mit starkem Ensemble
Shannon Murphys hochgelobtes Debüt beleuchtet sensibel die Mechanismen einer dysfunktionalen Familie und schafft mithilfe der Liebesgeschichte zwischen Milla und Moses ein emotionales Grundgerüst für ihre beiden Protagonist*innen auf der Suche nach innerer Freiheit und Erlösung. Das Schauspieler*innen-Ensemble entwickelt in seinem Spiel eine beachtliche Dynamik, die den einzelnen Figuren eine jeweils unterschiedlich starke Wirkungsmacht und Wucht verleiht. Trotz der komplexen Thematik beweist Murphy einen geschärften Blick für das zaghaft inszenierte Innenleben ihrer Figuren und lässt den Zuschauer*innen damit genügend Raum für das Einfinden in Millas Kosmos.
Und schließlich ist die letzte Szene eine im doppelten Sinn versöhnliche – selbst wenn sie nicht das Ende der Geschichte markiert, ist dem Schlussbild zweifellos eingeschrieben, dass auch Milla ihre Freiheit längst gefunden hat.
„Milla Meets Moses“ startete am 8. Oktober 2020 in den deutschen Kinos. Der Film ist außerdem digital sowie auf DVD erhältlich.