Deutschland, im Mai 1944. Ernst Lossa ist 13 Jahre alt und kommt, weil er von anderen Erziehungsanstalten als „nicht erziehbar“ eingestuft wurde, in eine Nervenklinik. Dort erkennt der Leiter Dr. Veithausen sofort, dass in Ernst ein aufgeweckter, rebellischer Junge steckt, der von seinem Vater, einem „Jenischen“, wohl nicht mehr aus der Anstalt abgeholt werden wird. Nach und nach gewöhnt sich Ernst an das Leben mit den Patienten, die unter geistigen und körperlichen Behinderungen leiden und von den Nazis als „kranker Volkskörper“ bezeichnet werden. Ernst findet Freunde, vor allem in der gleichaltrigen Nandl, die unter epileptischen Anfällen leidet. Doch nicht alles ist so harmonisch, wie Veithausen es gerne nach Außen darstellen möchte. Immer mehr häufen sich in der Klinik scheinbar zufällige Todesfälle. Schon bald merkt Ernst, dass der Tod in der Klinik kein willkürliches Schicksal, sondern Teil eines gnadenlosen und radikalen Programms ist. Ernst begehrt dagegen auf, zusammen mit der Nonne Sophia. Doch Widerstand ist für das System etwas, das es zu brechen gilt. Zwischen 1939 und 1945 wurden in Folge des sogenannten „Euthanasie“-Programms in deutschen Nervenkliniken mehr als 200.000 Menschen ermordet, darunter unzählige Kinder. Regisseur Kai Wessel greift dieses wichtige Thema auf und beginnt mit der historisch realen Figur des Ernst Lossa seinen Film. Es ist Ernsts Blick, mit dem der Zuschauer die Anstalt betritt, die zunächst noch erfüllt ist von einer recht heimeligen Atmosphäre. Es ist Sommer auf dem Land, die Farben sind warm, immer wieder gibt es auch heitere Momente. Doch ganz subtil lässt der Film das Grauen in die Szenerie einfließen. Mit der Krankenschwester Edith Kiefer betritt eine Art Todesengel die Zimmer der hilflosen Patienten. Wenn sie auf die Kinder zugeht, mit einem Tablett, auf dem ein Becher Himbeersaft den sicheren Tod enthält, dann überträgt sich das kalte Grauen auf den Zuschauer. Wessel arbeitet viel mit solch ausdrucksstarken Bildern und Einstellungen. Die Dialoge sind reduziert, auch auf dramatische Musik verzichtet der Film. NEBEL IM AUGUST lebt auch von dem authentischen Spiel der Darsteller. Sebastian Koch als Klinikleiter, dessen Härte und Kalkül erst nach und nach durchschaubar wird; Fritzi Haberlandt als Nonne Sophia, die versucht, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um Einzelne vor dem Tod zu retten; Henriette Confurius als Schwester Kiefer, in deren Gesicht eisige Kälte und gleichzeitig vorgegebene Empathie für die Kinder gespiegelt ist; all die Kinderdarsteller, die so natürlich spielen, als wäre man Zeuge einer Dokumentation. Und Ivo Pietzcker als Ernst Lossa. Pietzcker ist auch in dieser Rolle eine Entdeckung und trägt viele Szenen allein aufgrund seiner Präsenz, seiner Natürlichkeit und seinem intensiven Ausdruck voller Trotz und Entschlossenheit, der den Betrachter gefangen nimmt. Kai Wessels NEBEL IM AUGUST setzt Ernst Lossa und den Opfern der „Euthanasie“-programme ein würdiges Denkmal. Ein großartiger Film, der tief berührt und betroffen macht - und dessen zentrale Botschaft dennoch die lebensbejahende Hoffnung ist.
Jurybegründung:
Stolze 138 Minuten gilt es auszuhalten, aber Kai Wessels Opus Magnus NEBEL IM AUGUST ist so tiefschürfend und ergreifend, dass die Jury diese Zeitspanne kaum bemerkt hat. NEBEL IM AUGUST wurde inszeniert nach Motiven des gleichnamigen Tatsachenromans von Robert Domes. Der Film erzählt die Geschichte des 13jährigen Ernst Lossa. Der kerngesunde Junge gilt im nationalsozialistischen Deutschland als schwer erziehbar und wird 1942 in eine psychiatrische NS-Einrichtung eingewiesen. Nur zwei Jahre darauf wird er im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms ermordet.
In der der Sichtung angeschlossenen Diskussion zeigte sich die Jury überrascht von der Authentizität des Films.
Indem NEBEL IM AUGUST das gnadenlose Eindringen der Täter in die wenige, verbliebene Privatheit der Patienten in den Blickwinkel rückt, kann der Film auf ganz subtile Weise die Perfidie des NS-Systems deutlich machen. Er führt den Zuschauern vor Augen, dass es kein Entkommen in einer totalitären Gesellschaft gibt, in der Eines ins Andere greift und an dessen Ende der perfekte Todesengel, in Gestalt einer Krankenschwester aus Hadamar, lauert. Sie kommt, um die, für die es keine Verwendung gibt, zu ermorden.
Dass auch Ernst Lossa diesen Weg gehen wird, war der Jury zwar relativ früh bewusst, dennoch hat sie - und auch das zeigt die Qualität des Films - bis zum Schluss gehofft, dass sich sein Schicksal wenden wird.
Wirklich durchdacht und dramaturgisch clever gemacht zeigt NEBEL IM AUGUST alle Ebenen von Schuld und Mitschuld, bis hin zur fragwürdigen Rolle des Vatikans. Wessels Inszenierung vermag, dass sich Zuschauer beinahe gleichzeitig von der Vergangenheit distanzieren und dennoch als Teil des Systems begreifen müssen.
Einen Teil dieses Erlebnisses führt die Jury auf eine sensible Dramaturgie und Inszenierung zurück, auf eine eindrucksvolle Kamera und erstaunlich ruhige Bilder. Sie balancieren - genau wie der erstklassige Score - lange auf der Grenze zwischen gut und böse, Freude und Schrecken und Traum und Alptraum, bevor sie unabwendbar scheinende Ereignisse mit aller Macht dokumentieren. Hier steht der Film in keiner Weise der Dramaturgie des Buches nach, im Gegenteil, selten hat die Jury einen Film erlebt, der so glaubwürdig die Subtilität des Schreckens auf die Leinwand zu bannen versteht, wie NEBEL IM AUGUST.
Einen Grund dafür sieht die Jury auch in der Besetzung. Wider besseres Wissen vermag Sebastian Koch, als Anstaltsleiter Veithausen, dem Zuschauer suggerieren, sein Charakter sei ein guter Mensch, bis er mit großer Entschlossenheit sein wahres Ich zu erkennen gibt. Mit Erstaunen bemerkte die Jury, wie sympathisch ein so perfider Mensch wirken kann und erkannte darin den Schrecken dieses Charakters.
Der 13jährige Ivo Pietzker als Ernst Lossa steht Koch schauspielerisch indes in keiner Weise nach. Mit glaubwürdiger Sicherheit kann er eine rasche, plausible Wende vollziehen, vom schwer erziehbaren Streuner hin zum hilfreichen, aufrechten Helden, der für seine Überzeugung in den Tod gehen wird.
Nicht nur wegen seiner unkonventionellen Dramaturgie, seiner hervorragenden Besetzung und seiner historischen Dimension erscheint der Jury NEBEL IM AUGUST besonders wichtig, sondern auch wegen der, auch heutzutage immer wieder gemachten, Kostenrechnungen im Gesundheitssystem. Weil sich NEBEL IM AUGUST in vielerlei Hinsicht von der Masse des Genres positiv abhebt und sich weiterhin für eine gezielte Vergangenheitsbewältigung und für Verantwortung und Fürsorgepflicht ausspricht, spricht die Jury dem Film einstimmig das Prädikat „besonders wertvoll“ zu.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)