FBW-Pressetext:
Von der ersten Minute an ist der Film (Regie und Drehbuch: Eliza Hittman, Kamera: Hélène Louvart) ganz nah bei Autumn, der weiblichen Hauptfigur, die sich nicht nur in einer Ausnahmesituation, sondern auch auf der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsensein befindet. Sidney Flanigan spielt Autumn eindringlich und natürlich, ihre inneren Konflikte, die auch von ihrem Umfeld geprägt sind, empfindet man stets mit. In der amerikanischen Provinz warten keine Karriereträume und auch in der Familie erfährt Autumn nur wenig Aufmerksamkeit. Hittman lässt sich Zeit dabei, Autumn und ihre Cousine Skylar auf ihrer Reise nach New York zu begleiten und lässt, ganz realistisch, auch die diversen Beratungsgespräche, die Autumn über sich ergehen lassen muss, fast in Echtzeit geschehen. So entsteht ein sehr seltener, fast dokumentarisch anmutender Einblick in eine authentische Lebenswelt, die nur wenig Dialoge benötigt. Und doch sprechen die Figuren viel miteinander - mit Blicken, mit Gesten, mit ihren Bewegungen und Haltungen. Seine starke Haltung pro Selbstbestimmung der Frau legt der Film subtil dar und erzählt eher leise als laut. Eine echte Indie-Perle, die mit subtil eingesetzten inszenatorischen Mitteln eine packend dichte Atmosphäre schafft und deren unglaublich starke und unabhängige Protagonistinnen die Geschichte von Anfang bis Ende tragen. Auf der diesjährigen Berlinale wurde der Film dafür mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.
FBW-Jury-Begründung:
Eliza Hittmans zweite Regiearbeit NIEMALS SELTEN MANCHMAL IMMER gehört zweifellos zu den einfühlsamsten, prägnantesten und bewegendsten Filmdramen, die sich bis heute mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch beschäftigt haben. Eine der zentralen Stärken des Films findet sich darin, dass die erzählerische Perspektive der beiden Hauptprotagonistinnen mit absoluter Konsequenz eingehalten wird. Stilistisch ist der Film einem scheinbar extremen Realismus verpflichtet, der jedoch weniger durch dokumentarische Mittel erzeugt wird als durch ein stark verdichtetes Buch und einer hochkonzentrierten Inszenierung der herausragenden Schauspielerinnen. Im Laufe des Films wird im Vergleich zum Üblichen sehr wenig gesprochen, die aus dem ländlichen Pennsylvania stammenden Figuren strahlen fast etwas Verstocktes aus - umso stärker wächst mit zunehmender Dauer des Films die Identifikation mit ihnen. Den Bärenanteil daran, dass uns die Figuren näher erscheinen, als jede Abfolge von Dialogen es je vermag, trägt zweifelsohne Hélène Louvarts exzellente Kameraarbeit. Immer dicht bei den beiden Freundinnen spiegelt die Kamera in ihren Aktionen voller Zuneigung die Geschichte der beiden. Es ist, als streichle sie die Figuren und spreche aus, was die Freundinnen nicht ausdrücken können. Die ganze Grausamkeit der Situation und der sozialen Auswirkungen, die hinter den Figuren steht, wird nicht ausgesprochen, sondern hängt jederzeit als Bedrohung derart deutlich über den Szenen, dass wir als Betrachter*innen fast körperlich reagieren. Auch die Gefährdung, der beide im nächtlichen New York ausgesetzt sind, ist nur durch Andeutungen jederzeit spürbar. Eliza Hittman muss erstaunlich wenig ausformulieren, um das toxisch Männliche und das herrschende System des Patriarchats auf der Straße verstehbar zu machen, in dem sich zwei junge, unbedarft erscheinende Mädchen permanenter Sexualisierung ausgesetzt sehen. Auch wird niemals thematisiert, wie es zu dieser Schwangerschaft kam - die Positionierung der Figuren in die gezeigte Welt bietet Antwort genug. Diese kunstvoll subtile Kommunikation der sozialen Zwischentöne, die von hoher Verantwortung gegenüber Stoff und Figuren zeugt, intensiviert noch die Beziehung, die sich zwischen Zuschauer*innen und Figuren aufbaut. All das kulminiert in der Befragung, der sich die Hauptfigur in der Abtreibungsklinik stellen muss, in der sie auf jede Frage mit jeweils einer der titelgebenden Antworten reagieren soll. In einer einzigen minutenlangen Einstellung gedreht, offenbart sich in wenigen Worten der ganze Abgrund an Erfahrungen des Mädchens in der patriarchalen Welt ihres Umfelds. Es ist nicht weniger als meisterhaft, wie Eliza Hittman uns emotional durch die Geschichte führt und dabei jederzeit ihren Figuren und dem Anliegen gegenüber absolut ehrlich und aufrichtig bleibt. Ein sensibler, ein wichtiger, ein großer Film.
FBW-Jugend-Filmjury:
(www.jugend-filmjury.com)
Das US-amerikanische Drama NIEMALS SELTEN MANCHMAL IMMER zeigt einen kurzen Ausschnitt aus dem Leben der 17-jährige Autumn, die ungewollt schwanger ist und abtreiben will. Sie verheimlicht dies vor ihren Eltern, ohne deren Erlaubnis jedoch eine Abtreibung in ihrer Heimat Pennsylvania nicht möglich ist. Nur Autumns Cousine Skylar entdeckt ihr Geheimnis und gemeinsam reisen die Mädchen nach New York, um dort die Abtreibung vornehmen zu lassen. Die Reise dehnt sich länger aus als erwartet und die Mädchen müssen sich einige Tage im winterlichen New York ohne Geld durchschlagen. Der Film setzt auf eine starke Bildsprache und führt den Zuschauer auf diese Weise nah an die Hauptfiguren heran. Die Kamera begleitet die Mädchen dynamisch durch das nächtliche New York und transportiert ihre Emotionen durch zahlreiche Nah- und Detailaufnahmen. Mit einer langsamen Schnittfolge und einer ruhigen Tongestaltung, die auch stillen Momenten Raum gibt, wird eine harmonische Atmosphäre geschaffen. Die Schauspielerinnen verkörpern ihre Rollen glaubhaft und realistisch. So bleibt der Zuschauer nah an der Gefühlswelt der Mädchen und erlebt das Geschehen aus ihrer Perspektive. Zentrale innere Entwicklungen werden in einigen Passagen durch symbolische Handlungen, wie etwa der Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes, dargestellt. Der Handlungsverlauf ist immer chronologisch ange-ordnet. In einer Reduzierung verkürzt er jedoch die erzählte Zeit, in-dem er sich auf die wesentlichen Momente konzentriert. Zentrales Thema des Films ist der Umgang mit einer ungewollten Schwanger-schaft, der Entscheidung und den Konsequenzen, die damit zu treffen sind. Der Film nimmt dabei keine direkte Position ein, sondern betont, dass es wichtig ist, dass die junge Frau selbst die Entscheidung trifft. Er dokumentiert ein Einzelschicksal, lässt aber auch Raum für eigene Überlegungen und deutet dabei manches an. So bleibt der Vater des Kindes völlig unbekannt, wodurch verstärkt wird, dass die Entscheidung von ihr getroffen werden muss. Der Film spricht eher eine weibliche Zielgruppe an sowie Zuschauer, die sich anhand eines berührenden Beispiels mit dem Thema befassen wollen. Wir empfehlen den Film einem Publikum ab 14 Jahren.
dramatisch: 4 Sterne
interessant: 4 Sterne
berührend: 3 Sterne
realistisch: 4 Sterne
relevant: 4 Sterne
Gesamtbewertung: 4 Sterne.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)