Nachdem die Nymphomanin Joe ihrem geduldigen Zuhörer Seligman bereits fünf Kapitel aus ihrem Leben erzählt hat, fehlen nun noch drei. Und so berichtet sie von dem Erkennen ihrer Sucht, erzählt, wie sie sich dagegen wehrte, wie sie kämpfte und litt, bis sie erkannte, dass sie nun einmal so ist, wie sie ist. Und dass sich daraus sogar Profit schlagen lassen kann. Bis eines Tages eine Begegnung den Kreis des Schicksals, und damit auch der Geschichte, schließt. NYMPHOMANIAC 2 setzt die Geschichte der Joe nahtlos fort. Ging es in den ersten fünf Kapiteln mehr um die Herkunft der Frau und ihre sexuelle Reifung als junges Mädchen, so geht es nun um Joes Leben mit der Sucht und der Erkenntnis, den Zwängen nicht entkommen zu können. Charlotte Gainsbourg, die im ersten Teil vornehmlich als Erzählerin zu sehen war, dominiert nun die Geschichte, sie wirkt in ihrer desillusionierten Haltung kalt und stellenweise abgeklärt, und doch in manchen Szenen wieder unglaublich verletzlich und schutzbedürftig. Erneut agiert Skaarsgard als ihr geduldig zuhörendes Gegenüber, doch auch er offenbart mehr über sich als bisher, und lässt immer wieder für einen kurzen Augenblick erahnen, dass jede Geste der Unschuld auch eine Kehrseite haben kann. Lars von Trier geht mit seiner Geschichte den Leidensweg von Joe konsequent zu Ende. Alle Figuren wandeln traumwandlerisch sicher durch die Szenerie, kommunizieren mit Gesten und Blicken, wo Worte unnötig erscheinen. Dazu arbeitet von Trier immer wieder mit Symbolen, Metaphern und Zitaten, sogar aus seinem eigenen Werk. Wie schon der erste Teil ist NYMPHOMANIAC 2 radikal, provokant und in seiner Deutlichkeit erbarmungslos. Nicht nur als Abschluss eines Zweiteilers, sondern auch für sich genommen, ein Meisterstück des kompromisslosen und mutigen psychologischen Erzählens.
Jurybegründung:
Eigentlich ist es fast unmöglich, diesen Film getrennt von dem ersten Teil zu betrachten, zumal Lars von Trier es ja ursprünglich so intendiert hatte, seinen Film als Einheit zu zeigen. Außerdem beziehen sich die beiden Teile so stark aufeinander, bauen so stark aufeinander auf, dass es unerlässlich ist, beide Teile zu kennen, um über einen von ihnen zu urteilen. Insofern gilt nahezu alles, was bei NYMPHOMANIAC 1 kennzeichnend war, in gleichem, manchmal leicht modifizierten Maße auch für NYMPHOMANIAC 2.
In den drei abschließenden Kapiteln schließt sich hier nun der erzählerische Kreis, vollendet Lars von Trier seinen im ersten Teil aufgebauten Spannungsbogen rund um den Lebensweg der Nymphomanin Joe, wobei schon das Ende des ersten Teils ahnen ließ, dass der manchmal beinahe heitere Grundton nun einer zunehmenden Düsterkeit weichen würde. Mit dem Verlust ihrer Lust und dem Auseinanderbrechen ihrer Beziehung zu Jerome wird die Protagonistin zur Getriebenen, die ihr Heil in immer extremeren Spielarten der Sexualität sucht - und doch niemals Erlösung findet.
Man kann über den Inhalt des Films und über Lars von Triers dezidiert pessimistische Weltsicht durchaus geteilter Meinung sein und es ist zu vermuten, dass der Regisseur genau dies intendiert. Es besteht aber keinerlei Zweifel an der großen Meisterschaft dieses Films, an seinem Reichtum an Ideen, seiner fast enzyklopädischen Herangehensweise an ein schwieriges Thema, an seinem Vermögen, aus einem nur auf den ersten Blick abseitigen Thema ein Werk von universeller Aussagekraft zu gestalten.
Der zunehmende Verfall, die Abwärtsspirale ihrer Sucht drückt sich auch in den Bildern aus, die nun immer mehr an Andrej Tarkowski erinnern, dem Lars von Trier im Abspann ausdrücklich dankt, was man angesichts des ersten Teils noch für Vermessenheit halten konnte. Nun aber, mit dem schmerzlichen Anziehen der emotionalen Pein von Joe, wird die Wesensverwandtschaft zwischen diesen beiden Filmemachern zunehmend deutlich - besonders als Joe von einem Kindheitserlebnis berichtet, als sie zu schweben beginnt, meint man förmlich die Hand Tarkowskis und seine Inspiration zu spüren.
Die Magie der Bilder und die Faszination der Form, die Lars von Trier für seine Auseinandersetzung mit Eros und Thanatos gefunden hat, spiegelt sich auch in der Gestaltung der Tonebene wieder: Der Musikeinsatz ist ebenso gewagt wie pointiert, Rammstein, eine hinreißende Version von Jimi Hendrix „Hey Joe“, gesungen von der Protagonistin Charlotte Gainsbourg, dazu Bach, Prokofiew, ein sich stets wiederholendes Streicherthema, bilden den Score, hinzu kommt eine Tongestaltung, die sich voll und ganz auf die Dialoge konzentriert und jegliche Atmo wie unter Watte packt, um dann in entscheidenden Momenten nur auf die Macht des Geräuschs zu vertrauen - das alles findet man auf diese Weise fokussiert nur selten in einem Spielfilm unserer Tage.
Die Jury entschied sich daher einstimmig für die Vergabe des Prädikats „besonders wertvoll“.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)