Im Jahr 2008 nahm der riesige Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) am CERN in der Schweiz seine Arbeit auf. Der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt hat einen Umfang von 27 Kilometern. An vier Stellen entlang des Ringes werden Teilchen zur Kollision gebracht. Die Teilchendetektoren zeichnen auf, was bei den Kollisionen passiert. In internationaler Zusammenarbeit forschen über 3000 Physiker an einem großen Ziel: Sie möchten das „Higgs“ finden. Das „Higgs“ ist ein wesentliches Teilchen, das von der Physik noch nicht nachgewiesen wurde. Haben die Physiker das „Higgs“ erst einmal gefunden, erhoffen sie sich weitere Erklärungen zur Beschaffenheit des Universums. Aus genau diesem Grund wird das „Higgs“ auch „Gottesteilchen“ genannt. Mark Levinson, selbst promovierter Physiker, begleitet mit seinem Film die Arbeit seiner Kollegen am CERN und liefert noch nie dagewesene Einblicke in die Arbeit der Theoretischen- und Experimentalphysiker. Mehr noch: Er taucht ein in ihre Gedankenwelt, lässt den Zuschauer teilhaben an der Begeisterung, die sie täglich motiviert, weiter zu jagen nach jedem noch so kleinen Beweis für die Existenz des „Higgs“. Der Film zeigt aber auch Rückschläge, Stagnation, Widerstände. Und doch lässt der Film nie einen Zweifel daran, wie wichtig die Arbeit der Experten ist. Auch wenn der Physikprofessor David Kaplan auf die kritische Frage nach dem Sinn der Unternehmung keine aus ökonomischer Sicht befriedigende Antwort geben kann, so zeigt der Film doch eindrücklich, wie wichtig die Arbeit ist. Denn alle großen Veränderungen in Wissenschaft und Forschung begannen mit einer Suche. Und das ist es, so einer der Beteiligten, was den Menschen ausmacht. Er sucht und forscht und stellt Fragen. Der Film endet 2012 mit einer Pressekonferenz, bei der verkündet wird, dass das „Higgs“ nachgewiesen wurde. Im laut applaudierenden Auditorium sitzt der zu Tränen gerührte Peter Higgs, der dem „Gottesteilchen“ seinen Namen gab. Denn, und das macht der Film in jeder spannenden Minute klar, es geht um mehr als „nur“ physikalische Experimente. Es geht um das Ende einer langen und mühsamen Suche. Und gleichzeitig den Anfang neuer Fragestellungen. Ein kluger, spannend gemachter und erzählter Dokumentarfilm, der sich um ein kleines Teilchen dreht, ohne das es unser Universum nicht geben würde.
Jurybegründung:
Das sensationelle Ereignis, auf das alles in diesem Film zustrebt und für das jahrzehntelang die größte Maschine der Menschheitsgeschichte gebaut wurde, kann gar nicht direkt beobachtet werden. Es gibt kein Bild von ihm, nur Messwerte, die seine Existenz beweisen. Für die Filmemacher muss dies eine besondere Herausforderung gewesen sein, der sie schließlich souverän gewachsen waren. Die Aufnahmen von dem Teilchenbeschleuniger des wissenschaftlichen Großprojekts CERN sind natürlich überwältigend, aber es ist schwierig zu erklären, warum er für die Wissenschaftler so wichtig ist. Hochkomplexe Themen und Theorien müssen dem Zuschauer nah gebracht werden, und es ist erstaunlich, wie verständlich der Film dennoch auch für wissenschaftliche Laien ist. Hier wird über den Ursprung des Universums und die Grundfragen der Existenz gesprochen, und die Interviews mit verschiedenen Wissenschaftlern und Spezialisten sind so geschickt geführt, dass sie nie zu speziell, abstrakt oder in komplizierten Fachbegriffen über ihre Theorien und Forschungen berichten. Die Begeisterung für das Projekt und der Forscherdrang der Protagonisten wirken ansteckend, weil Mark Levinson so klug war, einzelne Mitarbeiter am Projekt auch von ihrem persönlichen Leben erzählen zu lassen. So bekommt man einen Eindruck davon, dass einige als Kinder prägende Schlüsselerlebnisse hatten und dass andere hochdramatische Lebenswege hinter sich gebracht haben, um schließlich am CERN Projekt mitarbeiten zu können. Und es wird verständlich, welche Tragweite das Experiment sowohl wissenschaftlich, philosophisch wie auch menschlich hat. Für einige kann ein bestimmtes Ergebnis die Arbeit von Jahrzehnten zu Makulatur werden lassen, und so ist PARTICLE FEVER zum Ende hin auch erstaunlich spannend. Denn Levinson hatte das Glück, einer nahezu perfekten Dramaturgie der Ereignisse folgen zu können: Er zeigt die Mühen der Vorbereitung, es gibt Rückschläge, einen falschen Alarm und schließlich einen Höhepunkt, der alle zutiefst befriedigt und zu gleich sehr ambivalent ist. Das Higgs-Teilchen ist gefunden und Peter Higgs, der seine Existenz vorhergesagt hat, sitzt selbst im Auditorium, in dem dieses Ergebnis bekannt gegeben wird und hat Tränen in den Augen. Wer hätte erwartet, welche Leidenschaften dieser Fund bei den Wissenschaftlern auslösen? Der Film bringt sie und ihre verschiedenen Denkansätze dem Zuschauer so nah, dass auch ihn ein wenig das Teilchenfieber packt.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)