Neun Szenen, Dietrich Brüggemanns erster Spielfilm von 2006, war episodisch aufgebaut, neun Szenen eben über neun Leben. In Renn, wenn du kannst, seinem ersten Film, den er außerhalb des Rahmens einer Filmhochschule drehte, ein ganz eigenes Projekt, selbstgemacht in der harten Wirklichkeit des Filmeschaffens, geht es nur um drei Leben, die zueinanderfinden; aber davon ausgehend geht es ungefähr um alles.
Sehr souverän geht er mit der Kamera um, mit seinen Figuren, mit seinen Darstellern, gibt seiner Geschichte Raum, sich zu entwickeln, gibt ihr die nötige Leichtigkeit und einen kompromisslosen Witz ja, der Film ist sehr gelungen. Brüggemann hat sich mit seinem Zweitling den zu produzieren immer schwerer ist als das Debüt als ernstzunehmender Filmemacher junger, frischer Erzähllust etabliert.
Robert Gwisdek, der den querschnittsgelähmten Ben im Rollstuhl spielt, gibt ebenfalls eine phänomenale Darstellung ab. Nicht nur ist es ja körperlich schwierig, einen Bein-gelähmten glaubwürdig zu spielen; auch ist sein Charakter höchst komplex: kalt, hart, sarkastisch, zynisch, ein notorischer Lügner, der mit sadistischer Lust seine Zivis quält, der schönen Frauen nachspannt, der in Selbstmitleid zerfließt, den alles ankotzt und der alles auskotzt: Gwisdek lässt dieses veritable Arschloch sympathisch erscheinen, mit dem frischen Charme ständiger ironischer Unverschämtheit, einem Einfallsreichtum, um irgendwas Interessantes aus dem immergleichen Rollstuhldasein herauszuholen, mit einer Unernsthaftigkeit dem Leben, den Mitmenschen und sich selbst gegenüber, die einnehmend ist.
Ihm zur Seite: als Annika Anna Brüggemann, Dietrichs Schwester und Co-Autorin, schön, leicht, voller Humor; und Christian (Jacob Matschenz), Zivi, der Ben Paroli bietet, der ihm Contra gibt und genau deshalb sein Freund wird.
Eine Dreiecks-Liebesgeschichte entwickelt sich, und das Unerhörte, dass sich die Schöne in den Rollstuhlfahrer mit dem schwierigen Charakter verliebt, wird ganz unterspielt dargebracht. Wie alles ganz nebenbei, ganz selbstverständlich geschieht, ohne viel Aufhebens, beiläufig, wie halt das Leben auch einfach geschieht, und wir sind darin nur Figuren.
Freilich ist der Film nicht völlig vollkommen. Das liegt daran, dass die Brüggemanns in ihr Drehbuch zuviel gepackt haben, Themen, die schon wieder eigene Filme werden könnten. Die Dreiecksgeschichte, Charakterporträt eines verbittert-zynischen Rollstuhlfahrers, Freundschaftsgeschichte; die Sache mit den Träumen im Leben, die man zu erreichen versucht Ben will einmal im Leben den Bottroper Tetraeder rauf, ein Stahlobjekt auf einem Berg; Annika will das Cello-Solo beim Brahms-Konzert spielen; dann sind da die Eltern, Bens Mutter ist überfürsorglich, und es ist klar, dass er gegen sie rebelliert (Leslie Malton in einer kleinen Cameorolle), und Annikas Mutter hat die Lebensalternative von Esoterik und New Age für sich entdeckt und deshalb die Tochter sitzen lassen. Das ist alles ein bisschen viel, um es unter einen Hut zu bringen, und irgendwie kann sich der Film nicht recht aufs Wesentliche konzentrieren. Das Motiv des metaphorischen Untertauchens, des endgültigen Untertauchens unter Wasser spielt auch eine Rolle, und die Weisheit, sein metaphorisches Musikstück, an dem man gerade sitzt, unter allen Umständen zuende zu spielen, taucht auch immer wieder auf. Dazu kommt Bens Gewissheit, dass die Zeit, dass das Leben die drei Freunde in alle Winde verstreuen wird, dass die Gegenwart also nur ein flüchtiger Moment ist. Dazu leitmotivisch immer wieder Stürze: vom Fahrrad, vom Schreibtisch, die Treppe runter etc. Ein bisschen viel ist das, und zugegebenermaßen auch 10 Minuten zu lang amüsant und charmant ist Renn, wenn du kannst aber allemal.
Fazit: Frisches Kino um eine Dreiecksliebe, um Freundschaft, um das Dasein als Rollstuhlfahrer und und und. Souverän und charmant erzählt, wenn auch etwas zu viel drinsteckt.