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Berlinale 2022: Im Zeichen des Schachbrettmusters

Berlinale 2022: Im Zeichen des Schachbrettmusters
© IMAGO / Achille Abboud

Die Internationalen Filmfestspiele Berlin kehrten in diesem Jahr trotz hoher Inzidenzen zum physischen Festivalformat zurück. Ein Erfahrungsbericht übers Kino in Zeiten von Corona.

Die Entscheidung, die diesjährige Berlinale als reine Präsenzveranstaltung abzuhalten, zog neben skeptischen Stimmen auch deutlichere Kritik in Form von heftigem Gegenwind nach sich. In Hochzeiten einer Pandemie eine entsprechende Großveranstaltung durchzusetzen, sei nicht nur unverantwortlich, sondern schließe auch Teile der Gesellschaft aus, so die einen. Nicht unbedingt im Widerspruch dazu stehen die anderen Stimmen, die die Entscheidung der Berlinale-Leitung um Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian als wichtiges Zeichen für die Kinokultur und der Hoffnung deuteten.

Der offizielle Teil der Berlinale endete am Mittwoch im Rahmen der Preisverleihung, am darauffolgenden Sonntag ist auch der letzte Publikumstag ins Land gezogen. Welche Kinomomente bleiben in Erinnerung und welche Bedeutung kann dem Erfahrungsraum Kino überhaupt noch zugeschrieben werden, wenn dessen Grundprinzipien durch Regeln und Hygienekonzepte ausgehebelt werden?

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Während die Berlinale im letzten Jahr lediglich in den eigenen vier Wänden stattfinden durfte und sich dort keine Festivalatmosphäre imitieren ließ, dient nun wie gewohnt der Potsdamer Platz als Zuhause für das Rennen um die Bären. In Zeiten von Quarantäne, Isolation und größtmöglicher Vorsicht schießen viele Gedanken durch den Kopf: auch das Wissen um das eigene Privileg, eine solche Präsenz-Veranstaltung überhaupt besuchen zu können – die berechtigten Forderungen von Journalist*innen nach einem hybriden Festivalkonzept, das auch weniger privilegierte Teile der Gesellschaft inkludieren würde, die eben nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Verantwortung tragen müssen, liefen ins Leere. Bis heute wartet man vergeblich auf eine plausible Erklärung für die durchaus problematische Entscheidung gegen ein hybrides Format und für die Präsenzpflicht.

Letztere soll im Rahmen ausgeklügelter Hygienekonzepte und Zutrittsregelungen immerhin möglichst coronakonform stattfinden. So steht die Berlinale in diesem Jahr ganz im Zeichen des Schachbrettmusters, das nicht nur das alltäglich gewordene Abstandhalten in den Kinosaal überträgt, sondern auch daran erinnert, dass Eskapismus in der Pandemie nicht reibungslos funktioniert. Dass die neuerliche Sitzordnung und die Maskenpflicht am Platz vernünftig und richtig sind, ist nicht diskutierbar, den Austausch erschweren die getroffenen Maßnahmen trotzdem. Sowieso ist das Festivalgelände zu einem Nicht-Ort verkümmert, an dem man sich kleine Kommunikationsinseln suchen muss, um mit Kolleg*innen oder Bekannten in Austausch treten und besondere Kinomomente reflektieren zu können.

Hoffen und träumen mit Richie Bravo im Berlinale Palast

Zu einem besonderen Kinomoment zähle ich auch die Weltpremiere von Ulrich Seidls neuem Film, der bei vielen auf der Agenda steht, eben auch, weil die letzte Regiearbeit des Österreichers mittlerweile sechs Jahre zurückliegt. Endstation Tristesse für Schlagersänger Richie Bravo und seine weiblichen Fans in „Rimini“ – es geht ums Scheitern, um jegliche Formen von Abhängigkeit, Träume und Hoffnung. Beim Rausgehen fällt das Wort „handzahm“, jemand anderes stellt fest: „Für einen Seidl überraschend erträglich“, was mich schmunzeln lässt.

Erfahrungsraum Kino

In Erinnerung bleibt auch Cyril Schäublins „Unrueh“, in dem ein russischer Kartograf und eine junge Uhrmacherin im Jahr 1877 aufeinandertreffen. Die Unruh, das Schwingsystem und Herzstück eines jeden mechanischen Uhrwerks, das die Zeit in messbare Abschnitte unterteilt, ist dem Film insofern eingeschrieben, als hier nicht nur mechanische, sondern auch politische Bewegungen den Takt vorgeben. Die meisterhaft kontemplative Bildsprache und kompositorische Präzision des Schweizer Filmemachers, der malerischen Tableaus extreme Close-ups entgegensetzt, lässt den Erfahrungsraum Kino spürbar werden – hier ticken die Uhren anders. Zu Recht erhielt Schäublin für seinen zweiten Langfilm den Preis für die Beste Regie von der Encounters-Jury.

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Claire Denis und Mikhaël Hers: Paris mit und ohne Pandemie

Im Wettbewerb wurde Filmemacherin Claire Denis mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie ausgezeichnet. In „Avec amour et acharnement“ entsendet sie Juliette Binoche, Vincent Lindon sowie Grégoire Colin in ein frenetisches Liebesdreieck mitten in der französischen Hauptstadt in Zeiten der Pandemie. Denis lässt in einer Pariser Wohnung Liebe, Hass und Eifersucht aufeinanderprallen und das moderne Liebesnest zur urbanen Zelle werden, zum Schauplatz des Scheiterns einer einst für die Ewigkeit gedachten Partnerschaft. Eine solche wünscht sich auch Charlotte Gainsbourg als Élisabeth in Mikhaël Hers‘ „Les passagers de la nuit“ – ein, anders als bei Denis, zutiefst versöhnlicher Film über den mutigen Neuanfang einer alleinerziehenden Mutter, die im Paris der 1980er-Jahre schlaflose, gestrandete oder einsame Anrufer*innen zu einer Radiosendung durchstellt. Nächtliche Streifzüge, nostalgische Paris-Bilder und der langsam abebbende Weltschmerz der liebevoll gezeichneten Hauptfigur sorgen für einige der schönsten Kinomomente auf der diesjährigen Berlinale.

Lust und Lüge

Nicht unerwähnt bleiben soll auch Ruth Beckermanns „MUTZENBACHER“ aus der Sektion Encounters: Die österreichische Dokumentarfilmerin holt in ihrem klugen Experiment in Form eines offenen Castings nicht nur verstaubte Männerphantasien an die Oberfläche, sondern stößt damit die Debatte um die Mehrdeutigkeit des 1906 erschienenen Romans Josefine Mutzenbacher neu an. Aus den Antworten auf ihre Fragen nach Sexualität, Männlichkeit und Moral ergibt sich schließlich eine intime Momentaufnahme einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft. Beckermanns hochaktueller Beitrag wird von der Jury mit dem Preis für die Beste Regie bedacht.

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Auch ein deutscher Beitrag sticht aus der Menge an Filmen heraus: Mit „Axiom“ ist Jöns Jönsson eine kluge Reflexion auf Identität, Wahrheit und die Bedeutung von Sozialprestige gelungen. Moritz von Treuenfels verkörpert den pathologischen Lügner Julius mit einer solchen Selbstverständlichkeit, die es mühsam werden lässt, den Schauspieler von seiner Figur zu trennen, wie Filmkuratorin Verena von Stackelberg beim anschließenden Q&A konstatiert, von denen es in diesem Jahr aus gutem Grund weniger gibt als üblich.

Kino in Zeiten von Corona: Alles anders?

Die Pandemie ist auf der Berlinale nun mal allgegenwärtig: das Schachtbrettmuster, das manche einfach nicht verstehen wollen, die Masken und das Verlassen des Kinosaals über die Notausgänge, wodurch erst draußen und nicht im Foyer Luft geholt werden soll, weil sich dort in der Regel schon das Publikum des Nachfolgefilms versammelt hat.

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Das Kino in Zeiten von Corona ist ein anderes und bedarf im Rahmen eines Festivals einer Erweiterung in Form eines hybriden Konzepts, um Alternativen für alle Gesellschaftsgruppen anbieten zu können. Die schönen Kinomomente, von denen es auch in diesem Jahr wieder zahlreiche gab, sind durch physische Leerstellen in Form von freien Sitzplätzen getrübt, die auch spiegeln, dass eben nicht jede*r Platz nehmen kann in der Pandemie. Als Ort des kollektiven Erlebens kommt dem Kino weiterhin eine immense Bedeutung zu, was sich auch in den 156.000 verkauften Tickets und Besucher*innenzahlen manifestiert. Es bleibt am Schluss aber die Frage, warum die aktuellen Umstände nicht als Chance begriffen werden können, das bestehende Konzept zu hinterfragen und Schwachstellen zu beseitigen, um die Türen noch weiter für diejenigen zu öffnen, die am stärksten von der Pandemie betroffen sind.

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