Schande: das ist der Punkt, um den sich alles dreht. Und der dennoch außer im Filmtitel nie angesprochen wird. Das ist das Kunstvolle, das Schöne an diesem Film: dass er thematische Kreise zieht, deren Mittelpunkt nicht erklärt, nicht definiert wird, sondern vom Zuschauer selbst erschlossen werden muss. Der dem Zuschauer also nicht alles aus einer Instant-Packung mundgerecht vorsetzt, der dafür gerade dadurch, dass er geistige und moralische Mitarbeit fordert, den Zuschauer mehr involviert.
Dabei hilft natürlich die Hauptfigur. John Malkovich spielt den Professor Lurie in Südafrika, und er legt sein ganzes Können in die Rolle. Malkovich, der an der Oberfläche so leise, so sanftmütig erscheint, lässt es in tieferen Charakterschichten brodeln, ohne es zum Ausbruch kommen zu lassen. Mit seismographischem Gespür für die Nuancen seiner Figur stellt er einen widersprüchlichen, ambivalenten Charakter dar, mal liebevoll zur Tochter, mal gleichgültig bis hasserfüllt zu anderen, vornehmlich Schwarzen; mal ein geiler alter Bock, der seine Lust lebt, ohne Rücksicht auf Verluste.
Mit dem Besuch einer Prostituierten beginnt der Film, und es geht weiter mit Luries Ausnutzung seiner übergeordneten Stellung, als er eine junge, halbschwarze Studentin verführt; naja: eigentlich ist es eine Art Vergewaltigung ohne physische Gewalt. Das kostet ihn den Job, und er ist uneinsichtig. Er sieht auch nicht ein, warum seine Tochter die Hälfte der Farm an einen Schwarzen verkauft hat, der so der Verdacht von Lurie schließlich das ganze Land übernehmen will. Wo er doch eigentlich nur einfacher Hilfsarbeiter sein sollte! Und er sieht nicht ein, warum seine Tochter nach wie vor auf dem Land leben will, wo es keine Sicherheit gibt vor marodierenden Banden.
Das ist der private Kreis der Schande, in dem sich Lurie bewegt, aussichtslos gefangen in den eigenen Verhaltensweisen, in den eigenen Vorurteilen: der die Schwarzen als Verfügungsmasse sieht, der nicht umgehen kann mit dem Hass, den manche nach jahrzehntelanger Unterdrückung den Weißen entgegenschlagen lassen; der seine Position der Stärke verloren hat und dieser vergeblich nachjagt. Der mit der neuen Zeit nichts anfangen kann, denn der Film spielt kurz nach dem Ende der Apartheid-Politik in Südafrika. Und das ist der große Kreis der Schande, in den alles eingebettet ist.
Traditionen brechen nun auf, die jahrzehntelang unterdrückt worden sind, und sie reiben sich mit den weißen Gesetzen, mit westlichen Moralvorstellungen. Wie Vergewaltiger geschützt werden können, nur weil sie zur Familie gehören; wie die schwarzen Arbeiter nur mit Muskelkraft und dem Familienverband, der Schutz gegen Raub-, Mord- und Vergewaltigerbanden bietet, ihr Land vergrößern, gar Weiße zu übertreffen sich anschicken: das geht über den Verstand von Lurie. Und zugleich ist klar wenn auch nicht für ihn , dass nur so ein Weg in die neue Zeit geebnet werden kann, wenn sich die weißen Herren einlassen auf das Land, in dem sie leben.
Schande schließt späteres Verzeihen, Versöhnen, Zueinanderfinden nicht aus; doch der Weg dahin ist steinig, und Lurie muss einiges zurücklassen; vielleicht wird er auch nie bis zum Ziel kommen. Die Überwindung vergangener Sünden, die Bewältigung des Schmerzes von Jahrzehnten erzählt der Film anhand seiner kleinen Familiengeschichte und in einer kleinen Theaterszene, in der die Studentin mitspielt, in die sich Lurie verliebt hat, die er geschändet hat. Eine bunte Farce ist das im schwulen Friseursalon, und es gibt Witze mit einem Besen, der alles bereinigt, und mit Kaffee, der schwarz, weiß oder als Cappuccino getrunken werden kann. Im Lachen über diese überdrehte Lächerlichmachung der todernsten gesellschaftlichen Situation sind alle im Publikum gleich.
Fazit: John Malkovich ist die perfekte Besetzung für einen südafrikanischen Professor, der mit der neuen Zeit nach dem Ende der Apartheid nicht zurechtkommen will.