Lampedusa. Der Name der Insel, die südlich von Sizilien liegt, ist seit der Flüchtlingskrise der letzten Jahre zu einem festen Begriff geworden. Hier kommen tagtäglich unzählige Boote mit Tausenden Menschen aus afrikanischen Ländern an, die die Flucht ergriffen haben. Vor Hunger, vor Krieg, vor Unterdrückung. Sie suchen Hilfe, wollen ein besseres, ein würdigeres Leben für sich und ihre Familien. Doch immer wieder kommt es vor der Küste Lampedusas zu Schiffsunglücken, die Helfer können oftmals nur noch Leichen bergen. Wer es geschafft hat, kommt in übervolle Auffanglager. Die Regierung und Verwaltung Lampedusas ruft nach dringend benötigter Unterstützung, die einfach nicht schnell genug kommt. Und die Menschen in Lampedusa? Sie leben ihren Alltag - inmitten einer unfassbar dramatischen Situation. Der Filmemacher Gianfranco Rosi hat sich ein Jahr lang auf Lampedusa mit seiner Kamera umgesehen und zeigt diesen Alltag auf der Insel. Er zeigt die Bewohner der Insel, die jeden Tag mit dem Schrecken der Flüchtlingskrise konfrontiert werden und die doch Distanz wahren müssen, um irgendwie ihr eigenes Leben fortführen zu können. Als bestes Beispiel hierfür dient der zwölfjährige Samuele, den Rosi immer wieder begleitet. Samuele geht zur Schule, spielt mit Freunden und in den Pinienwäldern. Rosi zeigt ihn nie in der direkten Konfrontation mit den fürchterlichen Zuständen an der Küste, verwendet harte Schnitte, um den Alltag der Bewohner und die Situation der Flüchtlinge und der Helfer und Ärzte gegenüberzustellen. Einen Kommentar gibt es nicht, die eindrucksvollen und mit großer Ruhe montierten Bilder sprechen für sich und überlassen dem Zuschauer die kontextuelle Verbindung. Die Bilder der Flüchtlinge, die kraft- und hilflos an Bord der Rettungsschiffe kommen, sind in ihrer Eindringlichkeit so einprägsam, dass sie vom Zuschauer sicherlich erst im Nachgang zugeordnet und auch verarbeitet werden können. Die Dramatik der Situation schwingt auch im Alltag der Inselbewohner mit, ohne dass groß darüber gesprochen wird. Rosi zeigt mit seiner Kamera Menschen und Schicksale, stellt sie jedoch nie voyeuristisch aus. Er versetzt den Betrachter in die Rolle des unmittelbaren Zeugen einer existenziellen Situation. Von flüchtenden Menschen zwischen Leben und Tod. SEEFEUER, der bei der diesjährigen Berlinale zurecht den Goldenen Bären gewann, ist eine filmisch äußerst präzise Zustandsbeschreibung einer immer größer werdenden weltweiten Krise. Ein erschütternder, beeindruckender und immens wichtiger Film, der den Zuschauer dazu bewegen kann, die Nachrichten mit anderen Augen zu sehen.
Jurybegründung:
Ein Jahr lang hielt sich der Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi auf Lampedusa auf, der italienischen Mittelmeerinsel, die zum Symbol der jüngsten Flüchtlingskatastrophe geworden ist. Er hat die Bewohner der Insel beobachtet, ihr Leben sowie ihre Reaktionen dokumentiert, er war auf Rettungsmissionen dabei und hat die Arbeit der Küstentruppen begleitet. Klug montiert er in seiner Erzählung die beiden Welten parallel zueinander. Da sind auf der einen Seite die Inselbewohner, allen voran der zwölfjährige Samuele, der von den Ereignissen draußen vor der Insel offenbar nicht viel mitbekommt. Er baut mit seinem Kumpel Zwillen, schlürft gerne Spaghetti ein und hat höchstens mal mit Atembeschwerden zu tun, die sein Arzt aber eher als psychosomatisch einstuft. Den Arzt indes hat man einige Minuten zuvor bereits im Film gesehen. Da erzählt er von der anderen Seite, von den grausamen Zuständen in den Flüchtlingsbooten, von den Verstümmelungen und Obduktionen, die er durchführen muss.
Es ist wahrhaft erstaunlich, wie wenig Zeigefinger Rosi im Filmaufbau benötigt, um ein Nebeneinander wie dieses zu schildern. Grundsätzlich besteht einer der großen Leistungen Gianfranco Rosis darin, jeden offensichtlichen Kommentar zu vermeiden (seine Parallelstruktur ist Kommentar genug). Er zwingt uns damit dazu, uns mit der Tragödie zu beschäftigen und uns selbst ein Bild zu machen. Angesichts dieser parallelen Struktur und angesichts der zum Teil schwer auszuhaltenden Bilder von den Flüchtlingsbooten rüttelt der Film an den eigenen Positionen, und vor allem hinterfragt er die eigene Verantwortung. Samuele und die anderen Protagonisten werden zum Spiegel unseres Verhaltens in Westeuropa zwischen Machtlosigkeit und Ignoranz. Und weil dieses Verhalten vorherrscht, wird im sicheren, reichen Westeuropa über Zahlen und Herkunftsländer, über Bleiberecht und Fluchtmotivationen debattiert. In Rosis Film ist angesichts der Bilder all das nicht von Interesse. Rosi ist nahe an die Menschen herangekommen, er gibt all dem Vagen, das wir aus den Medien zu kennen glauben, ein Gesicht. SEEFEUER ist gerade dank seines besonnenen und nicht-proklamatorischen Erzähltons ein enorm wichtiges Zeitdokument, das im täglichen Bilderurwald hysterischer Berichterstattung eine klaffende Lücke füllt.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)