SHAHADA ist ein hochspannender, intelligenter Film, der seine Zuschauer mit einer überragenden Geschichte, begnadeten Darstellern und raffinierten erzählerischen Komponenten fesselt. Drei Muslime hadern in Berlin mit ihren Schicksalen und vor allem mit ihren Schuldgefühlen: Sammi stellt sich gegen seine erwachenden, homosexuellen Gefühle, Maryam reagiert mit fanatischer Glaubensauslegung auf das Trauma einer illegalen Abtreibung und der Polizist Ismail verlässt seine Familie aufgrund eines folgenschweren Dienstunfalls. Regisseur und Autor Burhan Qurbani inszeniert sein Spielfilmdebüt mit großer Sicherheit, und verwebt gekonnt seine eindringlich authentischen Großstadtgeschichten um das Zentrum der muslimischen Gemeinde, in der Maryams Vater als Imam tätig ist. Modern und traditionell zugleich thematisiert SHAHADA die Widersprüche eines Lebens zwischen den Kulturen, gibt Einblicke in Werte- und Glaubensfragen und kennzeichnet die Thematiken als allgemeine Probleme des Individuums auch abseits der Religion. Respekt vor dieser Leistung!
Jurybegründung:
Maryam war schwanger und hat illegal abgetrieben. Samir entdeckt, verdrängt und bekämpft die homosexuelle Liebe zu seinem besten Kumpel. Ismail wird unverhofft wieder mit seiner tragischen Schuld aus der Tätigkeit als Polizist konfrontiert. Den drei Hauptfiguren ist gemein, dass sie muslimischen Glaubens sind und seit Langem, mehr oder weniger integriert und etabliert, in Berlin leben. Wie werden sie die nicht rückgängig zu machende gefühlte oder reale Schuld, den vermeintlichen Verrat am Glauben, an der Religion von Vater und Mutter und der eigenen Überzeugung verarbeiten können?
Der Film führt den Betrachter in gedankliche Dimensionen, wie sie ein Film mit dieser Ansiedlung bisher kaum erschlossen hat, in einer einmaligen Interaktion von Buch, Regie, Szenenbild, Kamera und Ton. Was er uns mit diesen Bausteinen in präziser künstlerischer Formensprache vermittelt, ist weit mehr als der Einblick in eine Glaubenswelt. Er erheischt nichtVerständnis oder gar Mitleid für Koran-Gläubige in einer Diaspora des ‚modernen Abendlandes‘. Er führt in die Tiefen von allgemeinen Befindlichkeiten, deren Bindeglied momentan die Hilflosigkeit und Verzweiflung ist, und die jeder, der noch Schuld und Verantwortung zu empfinden vermag, im entsprechenden Alter, vor dem Hintergrund familiärer oder gruppenspezifischer Vorschriften sowie gesellschaftlicher Normen und Tabuisierungen in verschiedenen Graden der Zuspitzung durchleben könnte.
Ob und wie sie es schaffen, die Verantwortung für ihr Wollen und Handeln zu schultern, Selbstverständnis, Selbstbewusstsein und eigene Maximen zu entwickeln, wird uns anhand der exemplarischen Helden mit atemloser, aber nie ins Reißerische entgleisender Spannung vorgeführt. Letzteres ist auch der episodischen Erzählform zu verdanken (deren Kapitelbezeichnungen noch einen zusätzlichen, aber gesondert zu erschließenden Stellenwert haben).
Der Vater Maryams, Imman der muslimischen Gemeinde - lässt er uns nicht an Nathan, den Dramenhelden des deutschen Aufklärers Lessing denken? Liebender Vater, Sinn-Anbieter statt Richter, Missionar des seelischen Friedens in einer friedlosen Welt, in der der Nachbar dem Nachbarn nichts gilt. Eine Welt in der institutionalisierter Glaube zur Ideologie mutiert und erstaunlicherweise stärker von den Individuen als von der Instanz weitergetragen wird, in der es möglich ist, Menschenliebe und Vernunft durch Dogmen auszuhebeln.
Maryam, die die Last nicht tragen kann und in die zersetzende Extremwelt ritueller Omina und Weisungen treibt, wird sie wieder Halt finden in der alles umfassenden Liebe ihres Vaters und seiner Überzeugung, dass auch Gottes Prinzip die Liebe ist?
‚Wohlan! / Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach…‘ (Gotthold Ephraim Lessing).
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)