Wo sich Coming-of-Age- und Kriminalgeschichte zu einem sommerlichen wie düsteren Potpourri vermengen, erfüllt sich Meisterregisseur François Ozon einen lang gehegten Traum und bringt eine impulsive Liebesgeschichte auf die große Leinwand.
„Wer sich mit dem Tod die Zeit vertreibt, ist bekloppt“, schickt die sichtlich mitgenommene Hauptfigur Alex (Félix Lefebvre) seinem „Sommer 85“ voraus – eine leise Warnung ans Publikum. François Ozons 19. Spielfilm ist keine profane Coming-of-Age-Erzählung, sondern vermählt eine sechswöchig andauernde Liebesgeschichte mit Motiven des Kriminalfilms und lässt zwei Settings aufeinanderprallen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Aus der Untersuchungshaft katapultiert Ozon die Zuschauer*innen und Alex an einen malerischen wie belebten Strand in der Normandie im Sommer 1985.
Von dort aus erweckt der französische Regisseur eine Sommerliebe zum Leben, die romantischer nicht beginnen könnte: Ein Unwetter lässt Alex mit seinem Boot kentern, doch Hilfe naht vom diesigen Horizont. David (Benjamin Voisin) rettet den in Seenot Geratenen und schleppt ihn mit zu sich nach Hause, wo Alex gleich mit Davids übergriffiger Mutter (Valeria Bruni-Tedeschi) Bekanntschaft macht. Einmal dort, wird er schnell Teil des bis dato eingeschworenen Mutter-Sohn-Haushalts. Madame Gorman, die sich sehnlichst einen guten Freund für ihr Kind wünscht, und der geheimnisvolle David selbst, der Alex seltsam vereinnahmend überredet, den Sommer über gemeinsam mit ihm im Laden des verstorbenen Vaters zu arbeiten, lassen den Neuankömmling nicht mehr gehen.
David und Alex lieben und entdecken sich, tanzen schwüle Sommernächte durch, retten Betrunkene und brettern mit dem Motorrad die Landstraßen entlang – und trotzdem sind ihre gemeinsamen Tage längst gezählt.
„6 Wochen, 1008 Stunden, 3.628.800 Sekunden“ wird die Romanze zwischen den beiden Teenagern andauern, bis ein Bootsausflug mit der Engländerin Kate (Philippine Velge) das Anfang vom Ende der jungen Liebe markiert, wie auch Alex im Voiceover erklärt. Die beiden driften auseinander, David beginnt sich zu langweilen und sehnt sich nach Freiheit. Provozierend kostet er diese Sehnsucht aus und Alex ahnt noch nicht, dass er seinen Freund, den er über alles liebt, längst verloren hat. Wehe, wenn er losgelassen: David ist impulsiv, er liebt die Geschwindigkeit und sein Motorrad genauso wie Sommerflirts an französischen Stränden.
Falsche Fährten und der Tod als ständiger Begleiter
Dass das Sommerabenteuer bei Alex schmerzhafte Erinnerungen hervorruft, manifestiert sich schon zu Beginn, denn etwas muss passiert sein, weshalb Alex nun unter Verdacht steht und im Prolog in Handschellen das Publikum adressiert. Die Liebesgeschichte inszeniert Ozon als Rückblick, während sich der zweite Handlungsstrang in der Gegenwart abspielt und eine von tragischen Ereignissen gebeutelte Hauptfigur zeigt. Wo die Erzählstränge im Verlauf des Films sinngemäß aufeinander zusteuern, spielt Ozon zu Beginn noch mit den Versatzstücken der Geschichte, um das Publikum auf eine falsche Fährte zu locken.
Der Tod ist dabei als Leitmotiv ständiger Begleiter, wenn zum Beispiel Alex Badewannen mit Särgen vergleicht oder David mit seinem vermeintlichen Taschenmesser gerne in fremden Gesichtern herumfuchtelt. Alex‘ unbändiges Interesse am Morbiden übertrumpft David mit einem grotesken Pakt, der später wie ein Fluch auf seinem Freund lasten soll und sich in einer herrlich skurrilen Szene manifestieren wird.
Ozon hat seinen Plan, den Roman „Tanz auf meinem Grab“ von Aidan Chambers zu verfilmen, nach 35 Jahren realisiert und mit „Sommer 85“ einen vielschichtigen, brillant besetzten Film auch übers Erzählen selbst geschaffen. Nostalgisch schöne Bilder im Super-16-Format erinnern an die Bildsprache Eric Rohmers, während der sporadisch eingesetzte New-Wave-Sound die tragischen Elemente der Liebesgeschichte geschickt verklärt und das Publikum verlässlich durch den Film manövriert. Ob das Ende ein versöhnliches, wahrhaftiges ist, muss wohl jeder selbst entscheiden. Dass Ozon hier auf die Initialsituation verweist, zeigt, dass er um das fragile Verhältnis zwischen Publikum und Hauptfigur als erzählendes Ich weiß. „Das Einzige, was zählt, ist, dass es einem gelingt, seiner Geschichte zu entkommen“, lautet Alex‘ Schlusswort, wenn er zum zweiten Mal davonsegelt – nur eben diesmal nicht allein.
„Sommer 85“ lief in der „Sélection Officielle 2020“ der Internationalen Filmfestspiele von Cannes und startet am 8. Juli in den deutschen Kinos.