FBW-Pressetext:
Als Kind muss der Wikinger Amleth mitansehen, wie sein Vater brutal ermordet und seine Mutter gefangen genommen wird. Amleth flieht und kehrt Jahre später zurück. Denn er hat geschworen, seine Mutter zu befreien und seinen Vater zu rächen. Die urmächtige Kraft, mit der Robert Eggers die nordische Hamlet-Ursage auf die Leinwand bannt, macht diesen Film zu einem überwältigenden filmischen Naturereignis.
Wie bereits in den vorhergehenden Filmen in der Regie von Robert Eggers (THE WITCH und DER LEUCHTTURM) lebt auch THE NORTHMAN von seiner Atmosphäre, in die der Film die Zuschauenden erbarmungslos und mitreißend hineinkatapultiert. Das Spiel aus Licht und Schatten, aus Feuer und Eis, aus menschlichem Kalkül und animalischem Instinkt erschafft eine archaische Kraft der Gegensätze, die man so selten auf einer Kinoleinwand sieht und zu der auch die fantastische Kameraarbeit von Jarin Blaschke sowie der hämmernd treibende Score von Robin Carolan und Sebastian Gainsborough Enormes beitragen. Eggers und sein isländischer Co-Drehbuchautor, der poetische Künstler Sjón Sigurdsson, spielen geschickt mit der mystischen Überhöhung alter Wikinger-Sagen und lassen dies auch in Erzählung und Inszenierung einfließen. Die Action in THE NORTHMAN geschieht mit konsequenter Brutalität und Direktheit und ist doch nie nur Schauwert, sondern immer aus dem inneren Antrieb der Figuren heraus motiviert. Dass der Film trotz aller fantastischen Elemente geerdet bleibt, liegt auch an den großartigen Darsteller*innen wie Nicole Kidman als Fürstin, die kalkuliert ihr eigenes Spiel treibt, Claes Bang als Tyrann, der die Macht an sich reißt, Anya Taylor-Joy als weise Hexe und Gefährtin. Doch es ist vor allen Dingen Aleksander Skarsgard als Amleth, der den Film darstellerisch zu einem wahren Ereignis werden lässt. Einem wilden Tier gleich watet er durch ein Meer von Blut, Schweiß und Tränen, um in rasender Rache seine Erlösung zu suchen. Dabei verinnerlicht Skarsgard in jeder Minute die innere Zerrissenheit eines Getriebenen zwischen Trauer, Wut und Schmerz. Wer sich auf THE NORTHMAN einlässt, begibt sich auf einen wilden, unbarmherzigen Trip. Auf dem es sich in jeder Einstellung lohnt, dabei zu sein.
FBW-Jury-Begründung:
Im Jahr 895 kehrt der Wikingerkönig Aurvandil von einer Schlacht zurück in sein Reich im Nordatlantik, wo er von seinem 10jährigen Sohn Amleth freudig empfangen wird. Nun will er sich der Ausbildung des Jungen widmen, ihn zum Kämpfer formen und zu seinem Nachfolger machen. Aber Aurvandils Halbbruder Fjölnir durchkreuzt diese Pläne: Er tötet den König, nimmt dessen Frau, Königin Gudrun, gefangen und besteigt selbst den Thron. Er trachtet auch dem jungen Prinzen und legitimen Thronfolger, der alles mitansehen musste, nach dem Leben. Aber der kann sich im letzten Moment in einem Ruderboot ins offene Meer hinaus retten. Dabei schwört er, eines Tages den Vater zu rächen, Fjölnir zu töten, die Mutter zu befreien und das Königreich zurückzuerobern. Jahre später ist Amleth zu einem kraftstrotzenden, grausamen Krieger geworden, der mit einer wilden Wikingerhorde im Osten Europas marodiert, Siedlungen überfällt, tötet, brandschatzt und Gefangene nimmt. Als er erfährt, dass diese als Sklaven nach Island verkauft werden sollen, wo Fjölnir nach dem Verlust seines Königreichs Zuflucht gefunden hat, gibt sich Amleth selbst als Sklave aus und schmiedet einen perfiden Racheplan, den er zusammen mit der weisen Sklavin Olga, die zu seiner Gefährtin wird, umsetzen will.
Regisseur Robert Eggers begibt sich mit diesem Wikingerdrama in die rauen Ursprünge der Gesellschaften im Norden Europas und erzählt eine Geschichte grausiger Rache - ohne jegliche Beschönigung oder Heldenverehrung. Grundlage bildet die Geschichte des mutmaßlichen Wikingerprinzen Amleth, wie sie von Saxo Grammaticus um 1200 in seiner Geschichte der Dänen geschildert wurde und um 1600 William Shakespeare als Vorlage für seinen „Hamlet“ diente. Historisch ist die Handlung um die Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert angesiedelt. Es ist die Zeit der Raubzüge und der Kämpfe untereinander, in der einzelne Stämme und Familien sich bekriegen. Ihre Häupter werden mitunter Könige genannt, obwohl sie nur über kleine und häufig wechselnde Territorien herrschen. Aber am Horizont zeichnen sich große Veränderungen ab: Die ersten Einheitskönigreiche entstehen, und die Christianisierung breitet sich immer weiter gen Norden aus.
Robert Eggers, der sich bereits in seinen vorherigen Filmen durch das Streben nach größtmöglicher Authentizität auszeichnete, hat sich auch hier von Fachleuten aus den Bereichen Archäologie und Geschichtswissenschaften beraten lassen, um die Details der materiellen Welt der Wikinger stimmig nachzubilden. Doch es geht ihm bei THE NORTHMAN nicht nur um die exakte historische Rekonstruktion, sondern vielmehr darum, die Atmosphäre der Wikingergesellschaft aufleben zu lassen, in der das Übernatürliche integraler Bestandteil war. So versucht das Drehbuch, das der Regisseur zusammen mit dem isländischen Dichter, Autor und Musiker Sjón verfasst hat, die innere Welt der Wikinger in vorchristlicher Zeit zu erfassen: ihren Glauben, ihre Mythologie und ihr rituelles Leben. Darin begegnen die Charaktere nicht nur Schamanen und Seherinnen, sondern auch allerhand Geisterwesen, wie Walküren und Wiedergängern. Sie weisen den Menschen den Weg und bestimmen ihr Schicksal und werden von ihnen als natürlicher Bestandteil ihrer Welt anerkannt.
Diese Welt will Robert Eggert den Zuschauenden nahebringen - und sie ist alles andere als glamourös oder abenteuerlich. Das Leben auf Island, wo der Großteil des Films spielt, ist rau und eintönig. Die karge Landschaft, von Jarin Blaschkes Kamera in vielen Totalen, langen Einstellungen und monochromer Farbgebung eingefangen, ist unwirtlich und lebensfeindlich. Darin sind die mit Gras und Stroh gedeckten Häuser kaum auszumachen. Erhellt werden sie von Fackeln, die bizarre Schatten an die Wände werfen, bei denen man nicht sicher sein kann, ob sie von Menschen oder Geisterwesen stammen. Fern am Horizont erhebt sich als Zeichen latenter Bedrohung ein Vulkan. Eruptiven Ausbrüchen kommen auch die kriegerischen Aktionen gleich, auf die sich die Berserker in rituellen Zeremonien einstimmen, wobei sie sich in Trance brüllen und sich blutbeschmiert mit übergeworfenen Fellen animalische Kräfte aneignen. Dabei bezieht die sonst weitgehend von elektronischen Sounds bestimmte Filmmusik von Robin Carolan und Sebastian Gainsborough auch alte Saiteninstrumente aus dem nordeuropäischen Raum ein und nimmt Klänge altnordischer Völker auf, wie Schamanentrommeln und Joik-Gesang.
Solch ein Setting lässt nicht unbedingt Schauspiel-Stars erwarten. Umso beeindruckender das Ensemble, das Robert Eggers für seinen Film versammelt hat und das bis in die kleinsten Rollen mit großen Namen des amerikanischen und skandinavischen Kinos aufwartet. Neben Ethan Hawke als König Aurvandil, Claes Bang als Fjölnir, Nicole Kidman als Königin Gudrun sowie Anya Taylor-Joy in der Rolle der Olga aus dem Birkenwald hat die isländische Musikerin Björk einen Auftritt als blinde Seherin, während Willem Dafoe und Ingvar Sigurdsson die illustre Riege der Fabelwesen anführen. Aber im Mittelpunkt steht eindeutig Alexander Skargård, der nicht nur die Hauptrolle spielt, sondern den Film auch mitproduziert hat. Als Amleth ist er in nahezu jeder Szene zu sehen und prägt sie mit darstellerischem Können und starker physischer Präsenz. Dabei ist er kein positiver Held, sondern ein lebenslang Getriebener, der von seiner Rache nicht ablassen kann.
Als Erwachsener wird er als grausamer Krieger eingeführt in einer virtuos inszenierten und grandios gefilmten Szene, die ihn inmitten seiner Wikingerhorde bei einem Raubzug begleitet. In einer minutenlangen Plansequenz metzelt er sich mit seinen Kumpanen durch eine Ansiedlung, wo in allen Ecken schreckliche Grausamkeiten begangen werden. Die Zuschauenden werden von der Kamera mitten ins Geschehen hineingezogen, ohne die Möglichkeit einer Distanzierung. Das ist die spektakulärste und wirkungsmächtigste Szene des Films, der anschließend auf Island eine eher kammerspielartige Fortsetzung findet, wenn Amleth mit furchterregender Konsequenz seinen Racheplan Schritt für Schritt umsetzt. Davon lässt er sich selbst von seiner Gefährtin Olga nicht abbringen, die am Determinismus rüttelt mit der Aussage, dass er zwar die Knochen der stärksten Männer brechen könne, sie aber deren Willen. Amleth jedoch sieht die Rache als seine Bestimmung an, die er annehmen muss: Gelingt es ihm, Fjölnir zu töten, kann er seine Mutter befreien, sein Königreich zurückerobern und mit Olga ein neues Geschlecht begründen. Wird er im Kampf getötet, kann er als tapferer Krieger Walhalla erreichen. Der feste Glaube an seine Mission hindert Amleth jedoch daran, bestimmte Zeichen zu erkennen und vor allem das Verhalten der Frauen richtig zu deuten. So kommt es ihm nicht in den Sinn, dass seine Mutter sich vielleicht gar nicht von ihm retten lassen will. Und er könnte sich wohl auch nicht vorstellen, dass sein königlicher Stammbaum eine Fortführung findet durch ein kindliches Zwillingspaar, wobei das Mädchen die königlichen Insignien trägt - ganz so, wie die blinde Seherin es einst geweissagt hat.
Wenn der Film auf sein furioses Finale zusteuert, erweist er sich als Racheepos von archaischer Wucht, das direkt einer Wikingersaga aus vorchristlicher Zeit entnommen sein könnte. Hier gibt es kein Erbarmen und keine Erlösung. Amleth hadert nicht mit seinem Schicksal und wird auch nicht von moralischen Zweifeln geplagt, wie später Shakespeares Hamlet. Und er ist auch kein Ben Hur, Gladiator oder Braveheart, die als moderne Kinohelden vor historischem Hintergrund für die gerechte Sache streiten. THE NORTHMAN ist eine Herausforderung für unsere Sehgewohnheiten und moralischen Empfindungen - und gerade deshalb: Besonders Wertvoll.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)