Coming-of-Age-Drama um eine Jungen aus der Provinz, der Schriftsteller werden will.
Von den Weiten des Alls in eine verrauchte Bar in Connecticut; vom Ende der Welt zu einer Geschichte über das Erwachsenwerden, von Netflix zu Amazon: Einen größeren Sprung als von dem ambitionierten „Midnight Sky“ zu dem Coming-of-Age-Drama „The Tender Bar“, tonal wie erzählerisch, hätte der Filmemacher George Clooney kaum machen können. Und während man sagen könnte, dass „Midnight Sky“, den ich sehr mochte, auf hohem Niveau scheiterte, fühlt sich der neue Film an, als würde er es gar nicht erst versuchen, mehr als nur eine ganz bescheidene Geschichte zu erzählen. Dabei fängt die Verfilmung des autobiographischen Bestsellers des Pulitzer-Preis-gekürten Journalisten und Schriftsteller J.R. Moehringer durchaus schwungvoll an, zu den Klängen von „Radar Love“ von Golden Earring, wenn der kleine JR mit seiner Mom aufbricht in ein neues Kapitel seines Lebens, nachdem sich herausgestellt hat, dass sein Vater ein unzuverlässiger, zu Gewaltausbrüchen neigender Nichtsnutz und Alkoholiker ist.
Als populärer Radio-DJ ist dessen Stimme fortan eine allgegenwärtige Präsenz im Leben des Jungen - und eine stetige Erinnerung, dass das Leben ohne ihn vielleicht besser, aber ganz ohne Vater doch auch trist ist. Der Weg von Mutter und Sohn führt zurück zu ihrem Vater und ihrer exzentrischen Familie, die in den besten Momenten an die wilden und zügellosen Clans in den Filmen von David O. Russell erinnert, siehe „The Fighter“ und „
Silver Linings„, in den weniger spritzigen Momenten an „Hillbilly Elegy“. Letztere überwiegen, weshalb man immer froh ist, wenn es JR in das Dickens zieht, eine Arbeiterklasse-Bar, die sein Onkel Charlie betreibt, der all die positiven Eigenschaften besitzt, von denen JRs Vater träumen würde, wenn er ein anständiger Kerl sein wollte. Sprich, er ist ein idealer Ersatzvater für den Jungen, von dem er all die wichtigen Lektionen fürs Leben lernt. Eine schöne Rolle für Ben Affleck, dem der hemdsärmelige Jedermann allemal besser zu Gesicht steht als der Rächer im Batman-Kostüm.
Leider liegt der Fokus nicht auf der Bar und seinen schrulligen Stammgästen. „The Tender Bar“ ist als Erinnerung erzählt, streng subjektiv aus der Sicht von JR, dem man parallel als junger Mann folgt, wie er seine Stimme als Journalist finden will. Tye Sheridan ist eine gute Besetzung für die Rolle, aber er bekommt nicht genug zu tun in einem Film, der sich so arg Mühe gibt, nicht aus der Rolle zu fallen. Das fällt vielleicht auch deshalb so empfindlich auf, weil es aktuell noch einen anderen Film gibt, der viel mehr aus der Kulisse des Jahres 1973 herausholt: „Licorice Pizza“ ist der originelle, quirlige Gegenentwurf zu „The Tender Bar“, dem man gerne zusieht, aber an dessen Konventionalität man durchaus auch etwas verzweifelt.
Thomas Schultze.