Peter Jacksons THEY SHALL NOT GROW OLD verbindet historische Bild- und Tonaufnahmen über den Ersten Weltkrieg und verknüpft sie zu einem filmischen Meisterwerk - radikal nah, zutiefst menschlich und gleichzeitig von hochgradig dokumentarischem Wert.
11. November 1918. An diesem Tag endete der Erste Weltkrieg, der 17 Millionen Menschen das Leben kostete und den die Briten bis heute den „Great War“ nennen. Es gibt viele historische Bildaufnahmen, die den Alltag der Soldaten in den Schützengräben an der Front dokumentieren - und es gibt Tonaufnahmen, die ihre Erinnerungen aufgezeichnet haben. Das alles ist historisches Material. Und damit ist es ferne Geschichte. Doch mit seinem neuesten Film THEY SHALL NOT GROW OLD holt Meisterregisseur eben jene Geschichte zurück aus der Vergangenheit. In einer nie dagewesenen technischen Bearbeitung - 3D-Digitalisierung, Colorierung, Vertonung mit Hilfe einer Lippenleserin - verknüpft Jackson das originale Bildmaterial mit den Interviews überlebender Frontsoldaten und vermittelt so mit größtmöglicher Nähe die Eindrücke der Zeitzeugen selbst. Durch die Fülle an Informationen erfährt man als Zuschauer vieles über die Euphorie der jungen Soldaten, die sich noch vor Erreichen der Volljährigkeit der Armee verschrieben. Man erlebt die Kameradschaft, die überlebenswichtig war und doch so schnell vorbei sein konnte. Man spürt die Ernüchterung, als der Krieg sich von einem romantisierten Mythos in lebensbedrohliche Realität verwandelte. All das vermittelt sich in schneller Schnittfolge, immer auch unterlegt von Kriegsliedern, von Granateneinschlägen, von Kanonenfeuer. Ungeschminkt und doch kunstvoll erschließt sich in THEY SHALL NOT GROW OLD die Überlebensrealität echter Zeitzeugen in einem expressionistischen Bild- und Klangteppich vor den Augen des Zuschauers. Ein Film, der viele erschütternde, bewegende und tief berührende Geschichten erzählt. Die alle Teil unserer Geschichte sind.
Jurybegründung:
Mit „They Shall Not Grow Old“ ist dem Blockbuster-Regisseur Peter Jackson ein überaus interessanter historischer Film über den Ersten Weltkrieg gelungen, der sich als Found-Footage-Arbeit gewissermaßen ins Gewand des Dokumentarfilms hüllt, korrekter Weise aber eher als Spielfilm mit dokumentarischem Material gesehen werden muss.
Aus dem Stummfilmarchiv des Londoner Imperial War Museums haben Jackson und Editor Jabez Olssen etwas mehr als 90 Minuten Originalfilm aus dem Ersten Weltkrieg extrahiert, diese aufwändig restaurieren, dann kolorieren und anschließend in 3D umwandeln lassen. Statt einer erklärenden Off-Erzählerstimme sind auf der Tonebene ausschließlich Ausschnitte aus Interviews mit Veteranen des Ersten Weltkriegs zu hören. Über 600 Stunden dieser „Oral History“ lagern in den Archiven von BBC und dem Imperial War Museum, aus denen die Filmemacher schließlich die Dramaturgie des Films gebaut haben. Zusammengesetzt aus Dutzenden Audio-Zeugnissen ist anhand dieser einzelnen Schilderungen ein Filmnarrativ entstanden, das eine Art Plot bildet von der Rekrutierung der Soldaten über ihre Ausbildung bis hin zu ihrer Fahrt an die Front. Diese Erzählungen sind unterlegt mit dem bearbeiteten Bildmaterial, das exemplarisch das Gesagte illustriert. Eine enorm aufwändige Soundebene bestehend aus gebauten Atmosphären, Synchronisationen und gewaltigem Kriegslärm vervollständigen das audiovisuelle Erlebnis des Films.
Im Grunde also funktioniert „They Shall Not Grow Old“ wie ein Spielfilm inklusive klassischer Spannungskurve und vollem Einsatz der Illusionsmaschine. Das Ergebnis ist eindrucksvoll, die Erzählungen der Zeitzeugen wirken in vielen Alltagsdetails absolut faszinierend und dann wieder extrem schockierend, wenn es um die Kampfhandlungen geht. Einerseits gelingt es dem Film, die damalige Bereitschaft der Menschen, in diesen Weltkrieg zu ziehen, nachzuvollziehen. Andererseits aber wirkt das Werk mit all seinen audiovisuellen Reizen stellenweise so überladen, dass der Betrachterin/dem Betrachter kaum Zeit zum Verarbeiten bleibt. Spätestens in den Sequenzen an der Front wird dann genau dies zum Stilmittel: Es ist ein Trommelfeuer an Bildern und ein Bombardement audiovisueller Eindrücke.
Das über 100 Jahre alte Filmmaterial ist in dieser Form noch niemals rezipiert worden, und im Verbund mit den Erzählungen der Zeitzeugen stellt „They Shall Not Grow Old“ eine zeitgeschichtlich absolut spannende und bemerkenswerte Arbeit dar, die - das darf nicht vergessen werden - das dokumentarische Material dieser vielen Quellen aber durch den Zusammenschnitt, die Einfärbung und die stereoskopische Bearbeitung klar fiktionalisiert und emotionalisiert. Und gerade die Montage der Bilder zu den Texten ist einem Teil der Jury an manchen Stellen zu plakativ ausgefallen, wenn streckenweise sehr bemüht versucht wird, Text und Bild möglichst kongruent zu gestalten, also partout Bilder zu finden, die dem Text absolut entsprechen, anstatt den teils beeindruckenden Studien der Gesichter zu vertrauen, die wirklich jedem Offtext standzuhalten vermögen.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)