Tore ist ein „Jesus Freak“. Als Mitglied der gleichnamigen christlichen Gemeinschaft hat er den festen Glauben an Christus und das Gute im Menschen tief verinnerlicht. Eines Tages trifft er auf den Familienvater Benno, der mit seiner Frau und deren Kindern Dennis und Sanny in einer Gartenlaube am Stadtrand lebt. Benno findet Tore und seine Haltung gegenüber der Welt faszinierend und lädt ihn ein, gemeinsam mit der Familie zu leben. Tore ist einverstanden und glaubt, eine neue Familie gefunden zu haben. Doch die Dinge sind nicht immer, wie sie scheinen. Ebenso wie Menschen. Gut und Böse, Täter und Opfer, Glaube und Verrat - es sind existenzielle Gegensätze, die der Debütfilm von Katrin Gebbe hier auf fast schon radikale Weise verhandelt, ohne zu pauschalisieren. Er zeichnet den Charakter Tore als moderne Jesusfigur, die sich geschworen hat, das Leid anderer auf sich zu nehmen. Bis zum Äußersten geht der Film, um zu zeigen, wie unnachgiebig, unmittelbar und unkontrollierbar das Böse im Menschen zuschlagen kann. Dabei verzichtet Gebbe auf explizites Zeigen der Gewalt. Die grausamen Taten Bennos finden weniger im Bild als im Kopf des Betrachters statt. Julius Feldmeier als Tore und Sascha Alexander Gersak als Benno sind unglaublich überzeugend in ihren Rollen und machen in jeder Szene bewusst, dass hier etwas passiert, was nicht mehr aufzuhalten ist. Für keinen Beteiligten. Immer weiter dreht sich die Spirale des Sadismus bis hin zum kompromisslosen und konsequenten Ende. TORE TANZT erklärt das Böse nicht. Aber zeigt, dass es da ist. Selten war der deutsche Film so radikal. So provozierend, mutig und gewaltig.
Jurybegründung:
Tore tanzt ist ein kompromissloser Film, der die Zuschauer tief verunsichert. Denn er gibt keine Antworten. So bleibt bis zum Schluss unerklärlich, warum Tore immer wieder zu seinen Peinigern zurückkehrt. Dabei ist es aber auch eine Stärke des Films, dass er seinem Publikum dies zumutet. Denn eine „saubere“ Auflösung wäre dieser Geschichte nicht angemessen. Es bleibt ein Geheimnis, warum Tore sich wissentlich auf diesen Leidensweg begibt und warum er das radikal Böse in seiner Ersatzfamilie weckt. Erzählt wird hier eine moderne Passionsgeschichte. Tore folgt seinem Vorbild Jesus Christus bis zum konsequenten Ende. Er hält die andere Wange hin und liebt seine Feinde. Dem entspricht auch die Einteilung in drei Kapitel, die nach den christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung genannt wurden. Dieser radikale Sinnsucher, den man in verschiedenen Kontexten sowohl einen geistig Kranken wie auch einen Heiligen nennen kann, wird von einer Familie aufgenommen, die in einem Schrebergarten lebt und durch seine Leidensfähigkeit zu immer grausameren Quälereien angestachelt wird. Dabei geht der Film oft an die Grenze des Erträglichen, obwohl oder gerade weil die brutalen Taten nicht spekulativ ausgestellt, sondern stattdessen suggestiv angedeutet werden. Hier zeigt sich das beachtliche Regietalent von Katrin Gebbe, die mit einer bewusst kunstlos eingesetzten Kamera arbeitet und jede Distanzierung durch Stilisierung vermeidet. So kommt man den Charakteren sehr nahe. Umso beeindruckender ist es, wie authentisch und intensiv das gesamte Ensemble der Darsteller spielt. An diesem Film scheiden sich die Geister. Auch in der Jury des Hauptausschusses wurde lange und leidenschaftlich über ihn diskutiert. Aber spricht es nicht für die Kraft eines Filmes, dass er solche starken Reaktionen hervorruft?
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)