TRANSIT von Christian Petzold erzählt die Geschichte von Georg, der sich in die Frau eines toten Schriftstellers verliebt und aus Angst vor Verfolgung dessen Identität annimmt.
Die deutschen Truppen stehen vor Paris. Georg entkommt im letzten Moment nach Marseille. Im Gepäck hat er die Hinterlassenschaft des Schriftstellers Weidel, der sich aus Angst vor seinen Verfolgern das Leben genommen hat: Ein Manuskript, Briefe, seinen Pass und seine Papiere. Als Georg in Marseille ankommt, erfährt er, dass in der Stadt nur bleiben darf, wer beweisen kann, dass er gehen wird. Und so nimmt Georg die Identität des Schriftstellers an und erhält ein mexikanisches Visum. Als er Weigels Frau Marie begegnet, verliebt er sich sofort in sie. Doch wie kann er ihr die Wahrheit gestehen? Und wie mit der Lüge leben? In seinem neuen, auf dem gleichnamigen Roman von Anna Seghers beruhenden Film TRANSIT transferiert Christian Petzold die Geschichte der deutschen Besatzung des Zweiten Weltkriegs wird ins Hier und Jetzt des heutigen Marseille, was den Zuschauer im ersten Moment befremden mag, den Film aber zusehends öffnet und der Geschichte etwas Allgemeingültiges verleiht. Die Bilder, die der Kameramann Hans Fromm einfängt, sind großartig und faszinierend und schaffen immer wieder neue Perspektiven und damit eine dem Thema gerecht werdende Atmosphäre. Sie vereinen das verheißungsvoll helle Licht einer Stadt am Meer mit der dunklen Enge der kleinen Gassen, in denen sich Menschen auf der Flucht verstecken und aneinander vorbeihuschen. Neben der Bild- und Klangkulisse beeindruckt der Film auch und vor allem durch seine grandiosen Darsteller, die sich im Liebes- und Handlungsreigen miteinander verstricken. Allen voran Franz Rogowski als Georg und Paula Beer als Marie, die eindrucksvoll unter Beweis stellen, warum sie zu den aktuell gefragtesten Nachwuchsdarstellern gehören. Die Dialoge sind reduziert und stellen sich dank des deutlichen Mienenspiels der Darsteller in den Hintergrund. Wie in einem vorsichtigen Katz- und Maus-Spiel agieren die Figuren miteinander. Zusammen mit dem klug eingebauten Kommentar einer beobachtenden und erzählenden Figur (Matthias Brandt) wird so eine dichte Atmosphäre erzeugt, die für anhaltende Spannung sorgt. TRANSIT von Christian Petzold ist ein gefühlvoll erzähltes und großartig inszeniertes Drama über Menschen auf der Flucht, zwischen der Suche nach einer Heimat und der Sehnsucht nach dem Entkommen.
Jurybegründung:
Seit Jahren arbeiteten Christian Petzold und der 2014 verstorbene Filmemacher Harun Farocki, dem der Film gewidmet ist, an der Adaption von Anna Seghers großem Exilroman. Die Schriftstellerin griff dabei auf eigene Erfahrungen während der Flucht im Süden Frankreichs des Jahres 1940 zurück, wohin die Kommunistin, Jüdin und Schriftstellerin mit zwei Kindern alleine flüchten konnte. 1944 erschien „Transit“ in englischer und spanischer Sprache, die deutsche Version druckte erstmals die Berliner Zeitung 1947. Erst 1948 erschien der Roman. Seghers, deren Roman „Das Siebte Kreuz“ in den USA verfilmt wurde, hatte das Manuskript auch Hollywood angeboten, wo jedoch bereits CASABLANCA in Arbeit war.
Petzold verlegt die Handlung zunächst nach Paris und dann ins heutige Marseille, was dem Film hohen Schauwert verleiht und den Zuschauer zunächst irritiert. Als Reminiszenz an die Vorlage führt er einen Barbesitzer ein, der wie ein neutraler Beobachter das Geschehen kommentiert und die spröde Liebesgeschichte mit Zitaten aus dem Text im Off vorantreibt. Die nüchternen Worte bilden einen spannungsreichen Kontrast zum aufgewühlten Gefühlsleben der Figuren. Der Regisseur knüpft mit dieser Konstellation an Hitchcocks VERTIGO an, so wie er weitere Klassiker der Literatur- und Filmgeschichte wie „Menschen im Hotel“ oder „Das Totenschiff“ zitiert.
In der französischen Hafenstadt sammeln sich die Entwurzelten und Verzweifelten, die vor den näher rückenden Deutschen geflohen sind. Warum sie in Frankreich wüten, bleibt bewusst unbeantwortet. Razzien bestimmen den Alltag. In den Konsulaten der USA und Mexiko warten die Menschen stundenlang bei sengenden Temperaturen auf ihre Visa und Transitvisa, um der Hölle Europas mit dem Schiff auf den amerikanischen Kontinent zu entkommen. Petzold erzeugt das Gefühl der Angst sehr subtil und zurückhaltend - Polizeisirenen dröhnen in den Straßen, Polizisten kontrollieren die Züge nach illegalen Passagieren. Nur einmal wird die Gefahr konkret, wenn eine Frau während einer Razzia im Hotel von Polizisten weggezerrt wird. Die anderen Hotelgäste folgen stumm der Szene, froh, selbst noch einmal davon gekommen zu sein und nicht Opfer von Misstrauen und Denunziation geworden zu sein.
Inmitten dieses Wahnsinns, in der der Mensch nur so viel wert ist wie die Papiere, die er besitzt, hat der deutsche Flüchtling Georg scheinbar das große Los gezogen. Durch einen Zufall kommt er in Besitz des Visums des deutschen Schriftstellers Weidel für Mexiko, das er nach dessen Tod ebenso an sich nahm wie dessen letztes Manuskript. Er nimmt dessen Identität an. Die letzten Stempel des amerikanischen und mexikanischen Konsulats erhält er im Gegensatz zu anderen Verfolgten schnell und unkompliziert. Er könnte fliehen, wäre da nicht diese geheimnisvolle Frau, die ihm schon an seinem ersten Tag in Marseille auf die Schulter klopfte, dann jedoch enttäuscht davon lief.
Es ist Weidels Frau, die ihren Mann verzweifelt sucht. Sie hat sich auf eine flüchtige Liaison mit einem deutschen Kinderarzt eingelassen, der es nicht schafft, Europa und diese Frau loszulassen. Georg kommt hinter ihr Geheimnis, als er einen Arzt für den illegal in Marseille lebenden Driss sucht, dessen Vater Heinz auf der Flucht verstorben ist. Georg hatte die Nachricht überbracht und sich mit dem Jungen angefreundet, der in ihm einen Vaterersatz zu finden scheint. Doch Georg, der ganz andere Möglichkeiten der Flucht und des Überlebens hat als der dunkelhäutige Junge und dessen Mutter, enttäuscht diese Hoffnung.
Georg ist ein Getriebener, getrieben von den Umständen und der Liebe. Und dem eigenen Unvermögen, Marie die Wahrheit zu beichten. Die Toten stehen wie Gespenster zwischen ihnen in diesem Labyrinth, diesem Wartestand auf den Transit und Weiterleben in der Fremde.
Durch die Interpretation des Romans und die Verlegung der Handlung in die Gegenwart schuf Petzold ein zutiefst humanistisches, existentielles Gleichnis auf Flucht und Exil, auf die Notwendigkeit des Neuanfangs in der Fremde sowie Gleichgültigkeit und Kälte einer Gesellschaft, die sich den Nöten der Ausgestoßenen verschließt und nur das eigene Überleben sichern will.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)