Ein Film auch noch für den zweiten Blick. Noch vor seinem Meisterwerk „Flandres“ (Großer Preis der Jury, Cannes 2006) entstanden, schockt Autorenfilmer Bruno Dumont in seinem ersten, in den USA gedrehten Film mit einer der seltsamsten und irritierendsten Liebesgeschichten der Filmgeschichte. Ein Paar treibt in eine Katastrophe. Radikales kompromissloses Kino, bedrückend und verstörend.
Jurybegründung:
Der Amerikaner David und die Russin Katia fahren durch den amerikanischen Südwesten. David sucht geeignete Szenerien für Fotoaufnahmen. Die Elemente der Hoffnung, der Wechsel-verheißung, der Veränderungschance, die jeder Suchbewegung innewohnen, löscht Regisseur Bruno Dumont durch eine unerbittliche Formgebung aus. Er erzählt in vorsätzlich quälend langen, statischen Einstellungen, er macht das, was in schnellen Schnitten als Geschehen daher käme, zum Nichtgeschehen. Die langen Blicke aus dem fahrenden Auto - beziehungsweise auf den Innenraum des großen Geländewagens, des archetypischen Yuppie-Traktors - machen aus der Bewegung eine Festsetzung, verwandeln den möglichen Aufbruch in ein Ritual der Monotonie.
Bruno Dumont wagt ein Form-Experiment, das sich heftig an den Aufbereitungskonventionen des Erzählkinos und an unseren Seh-Gewohnheiten reibt. Den Bildern vom Fahren werden Bilder der Mojave-Wüste, der Wüsten-Städtchen und der zwischen Militärgelände und Naturschutzzone gelegenen Ortschaft Twentynine Palms gegenüber gestellt. Der Film wird dann zum Stillleben: Es wird keine auf die Protagonisten reagierende und von ihnen beherrschbare Welt gezeigt, sondern eine Welt, die neben den Figuren her existiert und sie allenfalls toleriert.
Solchen Studien der Erstarrung setzt Dumont im Wortsinn schamlose, genaue, insistierende Beobachtungen von Sex und Intimität gegenüber. Es geht darin nicht um Zärtlichkeit, sondern um Entfesselung, um Ventilierung von Aggression. Kameraarbeit und Licht sind von einer Klarheit, die man als Erbarmungslosigkeit sehen kann. Zu den Raffinessen des Films gehört es, uns Bilder brünftigen Gebarens in einer heißen Gegend als eiskalt empfinden zu lassen.
Die Beziehung von David und Katia ist eine jenseits der Norm. Dumont suggeriert anfangs, die eigene Balance dieser Liebe entstehe zwischen seelischen Störungen Katias hie, der Toleranz, den Ausgleichsversuchen und kleinen Gereiztheiten Davids da. Die besondere Stärke seines Films liegt im Widerspruch von Äußerem und Innerem: Statt Stillstand und Ruhe erleben wir eine dyna-mische Veränderung unserer Wahrnehmung des vermeintlich Gleichförmigen. David entpuppt sich allmählich als der bedrohlich Instabilere in dieser Beziehung.
In die selbstgenügsame Verkorkstheit dieser Beziehung, für deren Abschottung von der Außenwelt der wuchtige, protzige Geländewagen steht, bringt Dumont eine Gewalt, die trotz der bedrängend deutlichen Bilder der Verletzung weniger soziales Geschehen als existentialistisches Symbol-Spiel ist. Dumont zeigt nicht Freiheit, sondern Freiwild: Das Nicht-Zugehörigsein der Reisenden wird zur Schutzlosigkeit der Vereinzelten.
Bruno Dumont hat einen beängstigenden, schockierenden, im wahrsten Sinne des Wortes verstörenden Film gedreht, der lange nachwirkt. Als einer der FBW-Juroren „Twentynine Palms“ im Januar 2005 auf dem Internationalen Festival von Rotterdam sah, reagierte er ablehnend und entsetzt: Auf den exzessiven Gewaltausbruch in den letzten Minuten des fast zweistündigen Films war er nicht vorbereitet. Doch die Bilder gingen dem FBW-Jurymitglied nicht aus dem Kopf. Nach vergeblichen Versuchen, eine DVD des Film zu bekommen, gab es nun bei der FBW unverhofft ein Wiedersehen mit „Twentynine Palms“. Dieser Juror gibt zu Protokoll: „Dies ist ein Film für den zweiten Blick. Das zweite Sehen öffnet die Augen für die subtile dramaturgische Struktur, die wohl durchdachte Bildkomposition und die Psychologie der beiden Charaktere. „Twentynine Palms“ gehört für mich zu den Filmen, die man nicht vergisst. Mein Gesamteindruck nach mehrfacher Sichtung: Nachhaltiger, reflektierter und eindrucksvoller kann man nicht umsetzen, was Dumont hier erzählen will. Deshalb „Besonders wertvoll“ als mein Votum.
Die Anzeichen für das grauenhafte Finale des Films sind vorher schon da: sein einseitiger, von Gesten der Unterwerfung und von unterschwelliger Aggression geprägter Sex, seine sich wiederholende, bedrohlich wirkende Annäherung im Rücken von Katia, ihre nicht erwiderten Liebeserklärungen und zunächst irrational erscheinenden emotionalen Ausbrüche, die in einem missglückten nächtlichen Trennungsversuch kulminieren.
Die wenigen Momente der Harmonie finden sich allein im ersten Drittel des Films: Ergriffen von der abstrakten Schönheit einer gigantischen Wind-Anlage umarmt sich das Paar; eine andere Einstellung zeigt das Paar nackt auf einer Steinplatte in der Sonne liegend.
Aber auch äußere Ereignisse kündigen das Kommende an: frische Kratzer am Fahrzeug, ein angefahrener Hund auf der Straße, ein bedrohlich nah an den Protagonisten vorbeifahrender schwarzer Pickup mit undurchsichtigen Scheiben, der vorübergehende Orientierungsverlust in der menschenfeindlichen Wüste.
Dennoch bricht das barbarische Ende wie eine sinnlose Naturgewalt über den Zuschauer herein. Der Überfall durch drei fremde Männer, die Zurichtung und explizit gezeigte Vergewaltigung Davids haben eine ähnliche zerstörerische Wirkung auf den Zuschauer. Es handelt sich um einen frontalen Angriff auf den Betrachter, der den folgenden Akt der Gewalt - die Ermordung Katias durch David und seine Selbsttötung - ansatzweise erklärbar macht.
Wie die entblößte, wehrlose, aber von dem physischen Akt der Vergewaltigung selbst verschont bleibende Katia werden auch wir hier gezwungen hinzusehen, die Tortur mitzuerleben. Dabei entsprechen Gesichtsausdruck und Stöhnen des unbekannten Täters auf erschreckende Weise Davids vorherigem Verhalten beim Geschlechtsakt mit Katia. Dumont zwingt uns in dieser Sequenz zur Identifikation mit ihr; umso härter trifft uns Katias Tod einige Minuten später.
Lange Einstellungen, eine relativ statische Kamera und bemerkenswert viele eindrucksvolle Landschaftsaufnahmen in der distanzierten Totalen, in der sich die beiden Hauptdarsteller fast verlieren, vermitteln über weite Strecken den Eindruck sich endlos dehnender Zeit, von existen-tialistischer Isoliertheit, Verlorenheit und Ausgesetztheit der beiden Protagonisten. Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die Tonspur: Derselbe monotone Schlager aus dem Autoradio taucht mehrfach auf, zuletzt unmittelbar vor dem erzwungenen Ende der Autofahrt durch die Täter. Die klaustrophobischen Innenaufnahmen des Motelzimmers verdeutlichen dagegen die Spannung und latente Aggression zwischen den beiden Protagonisten.
In der FBW-Jury wurde der verstörende Film jedoch auch kontrovers diskutiert. Ein Teil der Jury fand die Charaktere wenig entwickelt und das Ende allzu unmotiviert. So er gab sich keine Mehrheit für ein Prädikat „Besonders wertvoll“ (zwei Stimmen), eine klare Mehrheit von 3:1 Stimmen jedoch für das Prädikat „Wertvoll“.
„Twentynine Palms“ steht somit bei der FBW in der Tradition der großen provokanten Filme von Buñuel, Pasolini und anderen, bei denen das Prädikat „Wertvoll“ keineswegs eine Qualitätsminderung bedeutet, sondern auf eine kontroverse Einschätzung des Films hindeutet. - Nicht das Schlechteste, wenn ein Film zur Diskussion und zur Auseinandersetzung anregt.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)