Es könnte alles so schön sein. Paul ist erfolgreicher Arzt, Martha glücklich in ihrem Beruf als Lehrerin. Gemeinsam will das junge Ehepaar nach Marseille auswandern. Doch einen Tag, nachdem Paul vorausgefahren ist, ereilt Martha die Nachricht, ihr Mann habe sich das Leben genommen. Akzeptieren kann Martha diese Tatsache nicht. Nach und nach muss sie feststellen, dass das Leben, an das sie bisher geglaubt hatte, auf Lügen aufgebaut war. Doch Martha will genau dieses Leben zurück. Der Debütfilm von Jan Schomburg beschreibt die Dynamik zwischen Illusionen, Wunschträumen und Zerrbildern der Realität. Sandra Hüller spielt die Figur der Martha überwältigend intensiv zwischen lebensbejahendem Optimismus und dem wütend-verzweifelten Kampf um ihre heile Welt. Vielschichtig, spannend und authentisch erzählt der Film von Trauerarbeit, die die Trauer verweigert. Das kluge Drehbuch regt an und gibt genug Raum für tiefe Gefühle und die Aussicht, dass sich das Glück unverhofft wieder einstellen kann.
Jurybegründung:
Der Selbstmord ihres Mannes löst bei der jungen Witwe zunächst konsequente Verweigerung und Leugnung aus. Zugleich wird ihr das Ausmaß der Illusion ihrer gemeinsamen Liebe offenbar. Anstatt Trauer zuzulassen, stürzt sie sich in ein neues Leben, sogar in eine erneute Partnerschaft. Aber ist das einfach so möglich?
Martha - gespielt von Sandra Hüller - macht es sich nicht unbedingt leicht. Nach dem allerersten Schock nimmt sie die Spurensuche auf und muss hilflos zur Kenntnis nehmen, dass Paul nicht der erfolgreiche Mediziner gewesen ist, für den er sich ausgegeben hatte. Sie will wissen, wer er denn nun wirklich war und wie er sich in seine Lügen verstrickt hat. Erst als sie realisiert, dass niemand von Paul weiß, dass sie keinen Ansatz hat, um dieser Illusion auf den Grund gehen zu können, fasst sie den Entschluss, ihre gemeinsame Liebe nicht einfach so in der Unendlichkeit des Raumes verpuffen zu lassen.
Sie trifft auf Alexander und projiziert abrupt ihre Erinnerungen an Paul auf ihn. Eine neue Illusion, was dem nicht eingeweihten neuen Liebhaber anfangs trotzdem nicht völlig entgeht. Aber auch er lebt gewissermaßen in einer Scheinwahrheit, wenn auch mit bedeutend geringerer Fallhöhe: Seine meist abwesende Geliebte, die wie ein flüchtiges Gespenst in seinem Leben wirkt, tanzt ihm frivol auf der Nase herum. Diese Figur ist nur eine der vielen Nuancen des Films, aber wie alles andere auch von genau gesetzter elementarer Bedeutung. Erst über diese eigene Illusion ist Alexander überhaupt in der Lage, sich auf das rätselhaft traumwandlerische Wesen Martha einzulassen. Und gegen Ende ist es ausgerechnet jene Geliebte, die ganz beiläufig Alexander ein Foto von Paul reicht, das Martha in der Uni ausgehängt hatte, als sie noch nach Anhaltspunkten suchte.
Der Perspektivenwechsel auf Alexander mitten im Film, macht unter anderem auch aus diesem Grund Sinn. Er verdeutlicht vor allem aber auf sehr geschickte Weise die Innenansicht und zugleich den Blick von außen auf Martha. Dies ist psychologisch äußerst interessant und verleiht dem Film eine noch größere thematische Tiefe.
Die mit zahlreichen Zeichen, Doppelungen und Zufällen gespickte Handlung weist über Marthas eigene Wahrnehmung in ihrer Ausnahmesituation hinaus. Diese Ebene erscheint wie ein Wink bezüglich der unabhängigen autarken Kraft der Liebe an sich, welche hier auf so grundlegende Weise verhandelt wird.
In der Diskussion nach dem Film, kristallisierten sich alsbald die großen und teils schmerzhaften Fragen heraus, die der Film ohne Frage aufwirft: Wo ist der Ausweg aus dieser enormen Lebensverletzung, bestehend aus Verlust und aufgedecktem Scheinleben? Gibt es eine zweite - komplett neue - Chance und wie gestalte ich sie? Lässt sich ein geleibter Mensch ersetzen? Kann ich meine Erinnerung an ihn auf jemand anderes übertragen? Oder lieben wir am Ende doch nur zweckgebunden, ohne wirkliche Bindung an eine Person?
Bei aller Offenheit des Films, deutet die Entwicklung der neuen Liebe zwischen Martha und Alexander eine gewisse Haltung an: Die Illusion mag als Mittel zum Zweck legitim erscheinen, um Ungeheuerliches zu bewältigen. Für einen nachhaltigen Neuanfang braucht es allerdings Überwindung: Erst als Alexander von Paul und seiner Geschichte erfährt, und er selbst die letzten Hemmnisse seines alten Lebens hinter sich lassen kann, ist der Weg für beide wirklich frei. So kann auch das imaginierte Kind zu einem realen werden.
Einhellig wurde nicht nur die große schauspielerische Leistung des gesamten Ensembles gewürdigt: Sandra Hüller im Besonderen verleiht der Seelenverletzten mit zugleich nach außen gekehrter Beherrschtheit eine große, fast ungeahnte Menschlichkeit. Sie nimmt den Zuschauer mit in ihre Wahrnehmung hinein. Doch ist es auch der Regie zu verdanken, ihr und den weiteren Protagonisten diesen schauspielerischen Raum zu lassen. Das großartige Drehbuch konnte dadurch seine Wirkung entfalten. Ganz einig war man sich nicht darüber, ob die Kompaktheit der Bedeutungsfülle innerhalb der Erzählung nicht ein klein wenig zu raffiniert und damit vielleicht zu konstruiert auf den Zuschauer wirken könnte.
Dem Publikum wird in der Tat etwas zugemutet, aber vor allem auch zugetraut! Hier ist ein spannender und bewegender Film gelungen, offen für mehr als eine Lesart, dessen Tonfall dabei so eigentümlich herzlich ist. Ein Werk, das nicht nur als Debütfilm außerordentlich überzeugt.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)