Unrueh: Ausgefallenes Drama um einen russischen Geograph, der in einem kleinen Schweizer Uhrenmacherort den Anarchismus kennenlernt.
Handlung und Hintergrund
1877. Der russische Geograph Pjotr Kropotkin reist ins Schweizer Jura-Tal in einen Ort, in dem das Leben der meisten Einwohner von der dortigen Uhrenfabrik bestimmt ist. Die regierende Klasse setzt auf Zeit- und Gewinnoptimierung in allen Bereichen. Die Arbeiterinnen gründen eine Gewerkschaft und fordern inspiriert von anarchistischen Ideen die Befreiung der Zeit, setzen auf Solidarität und Pazifismus.
News und Stories
Susan Engels22.02.2022
Die Internationalen Filmfestspiele Berlin kehrten in diesem Jahr trotz hoher Inzidenzen zum physischen Festivalformat zurück. Ein Erfahrungsbericht übers Kino in Zeiten von Corona.
Besetzung und Crew
Regisseur
Darsteller
- Clara Gostynski,
- Alexei Ewstratow,
- Hélio Thiémard
Kritikerrezensionen
Unruh Kritik
Unruh: Ausgefallenes Drama um einen russischen Geograph, der in einem kleinen Schweizer Uhrenmacherort den Anarchismus kennenlernt.
Der Schweizer Film „Unrueh“ von Cyril Schäublin gehört zu den schönsten Entdeckungen der Berlinale 2022. Das gilt eigentlich für alle Aspekte: Die anspruchsvolle und ausgefallene Machart, die interessante Themenkombination aus Uhrmacher-Industrie und Anarchisten-Bewegung, die wunderschönen Bilder und der frische Schauspiel-Cast an aufregenden Gesichtern. Es fängt zugegeben etwas sperrig an. Cyril Schäublins Spezialität war es schon in seinem in Locarno umfeierten Debütfilm „Dene wos guet geit“ Bilder zu bauen, in denen die Protagonisten teils nur am Rande vorkommen oder erst im Laufe einer Szene in den Mittelpunkt des Geschehens rücken.
„Unrueh“ erzählt von dem russischen Geographen Pjotr Kropotkin, der im 19. Jahrhundert für Kartenarbeiten ins Jura-Tal reist und als Vordenker des Anarchismus wieder nach Russland zurückkehrt. Eine Bewegung, die man heute vornehmlich mit Attentätern verbindet, der aber Schäublin eine faire Darstellungsweise in ihrer ursprünglichen Idee einräumt. Der Film stellt diese so bezeichnete weiterentwickelte Form des Kommunismus, die Führungsstrukturen abschaffen und basisdemokratisch funktionieren will, dem im Aufstieg begriffenen Kapitalismus gegenüber, der die Schweiz zu dieser Zeit schon fest im Griff hat. Es gibt in der kleinen Ortschaft, wo die Handlung spielt, unterschiedliche Zeitzonen: die Fabrikzeit des großen Uhrenherstellers, wo überwiegend Frauen die Uhrwerke auf hochfaszinierende Weise zusammensetzen, die Zeit vom Telegrafenamt und die Zeit der Gemeinde. Alles wird hier vermessen und optimiert. Uhren werden nachgestellt, Arbeitszeiten gestoppt und rationiert.
Wer aus der Reihe tanzt, etwa seine Steuern nicht zahlt, muss ins Gefängnis oder darf nicht wählen. Wobei der Wahltag im Ort sowieso eine fantastische Szenerie ist, wenn Frauen, Menschen unter 20 Jahren und Nicht-Steuerzahler von der Stimmabgabe ausgeschlossen sind und quasi nur das Großkapital in feinen Anzügen Wahlzettel einschmeißen darf. Regisseur Schäublin, der aus einer Schweizer Familie von Uhrmacherinnen stammt, demonstriert in „Unrueh“ mit großer Lust und Sinnlichkeit die Herstellung des Uhrwerks. Die junge Uhrmacherin Josephine (Clara Gostynski) bietet in einem romantischen Spaziergang mit Kropotkin einen so faszinierenden wie wunderschönen Monolog über die titelgebende Unruh, die das Herz des damaligen Uhrwerk ausmacht und technisch ähnlich schwer nachzuvollziehen ist wie Quantenphysik. „Unrueh“ ist ein stilisierter Kostümfilm, der manchmal aber auch im Herstellungsprozess der Uhren fast dokumentarisch anmutet, dann auch wieder absurde Szenerien voller Humor im Bezug auf die Obrigkeit hat. Schäublin hat zwar bei der DFFB bei dem Slow Cinema Vordenker Lav Diaz und dem Dokumentarfilmer James Benning gelernt. Aber seine Werke sind narrativ deutlich engagierter und damit auch zugänglicher für ein breiteres Publikum.
Michael Müller.
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