UTØYA 22. JULI erzählt die Geschichte des Attentats vom 22. Juli 2011 in Norwegen, bei dem 69 Jugendliche ums Leben kamen, in nur einer Einstellung aus Sicht der Opfer und der Überlebenden.
Kaja weiß, dass ihre Mutter sich Sorgen macht. Erst vor einer Stunde gab es dieses schreckliche Bombenattentat in Oslo. Alle sind in Panik. Doch Kaja versucht ihre Mutter zu beruhigen. Immerhin ist sie mit ihren Freunden auf einer Insel. Und das ist ja wohl der sicherste Ort der Welt. Doch kurze Zeit später sind Schüsse zu hören. Menschen schreien. Alle fangen an, wegzurennen. Auch Kaya. Sie weiß nicht, was hier gerade geschieht. Und sie weiß nicht, wo ihre jüngere Schwester ist, die sie aus den Augen verloren hat. Und von einem Moment auf den anderen ist alles anders. Am 22. Juli 2011 ermordete ein rechtsradikaler Fanatiker auf der kleinen vor Oslo gelagerten Insel Utøya 69 Jugendliche, die im Rahmen eines Jugendcamps auf der Insel zusammengekommen waren, um über Politik zu diskutieren und ein schönes und friedliches Wochenende miteinander zu verbringen. Der Anschlag dauerte 72 Minuten. 72 Minuten, in denen die Jugendlichen auf der Insel nicht wussten, woher die Bedrohung kam und ob sie sie überleben würden. Der Filmemacher Erik Poppe erzählt die Geschichte des Attentats aus Sicht der Opfer und wählt die (fiktive) Perspektive Kajas, eines jungen Mädchens, das stellvertretend für viele der jungen Menschen steht, die damals auf der Insel waren. Von Anfang an ist die Kamera bei ihr und folgt ihr in einer einzigen Einstellung. So ist der Zuschauer immer bei ihr, gemeinsam mit ihr gefangen in der Ungewissheit, auf der Suche nach ihrer Schwester und auf der Flucht vor einer Bedrohung, die Poppe nur als Umriss im Hintergrund andeutet. Der Film blendet die Perspektive des Attentäters aus, und doch ist er ständig präsent, auch durch die Tonebene, ein Klangteppich aus Schüssen, die aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen scheinen und dadurch die Desorientierung Kajas noch verstärken. Andrea Berntzen spielt Kaja mit einer solch eindringlichen Offenheit, die keine Distanz zulässt. Ein Blick in ihr Gesicht zeigt ihre Todesangst und doch auch den trotzigen Überlebenswillen, der sie nicht aufgeben lässt. Mit UTØYA 22. Juli ist Erik Poppe ein Film gelungen, der nicht nur eine Geschichte voller Spannung erzählt. Es ist ihm gelungen, etwas greifbar zu machen, was man nicht begreifen kann. Aus Sicht der Opfer und der Überlebenden. Weil ihre Geschichte erzählt werden muss, um nicht vergessen zu werden. Und somit ist UTØYA 22. JULI als Aufarbeitung eines schockierenden Ereignisses, das so viele Leben für immer veränderte, ein wichtiger Film.
Jurybegründung:
Angesichts eines so schrecklichen Geschehens wie des Anschlags auf der norwegischen Insel Utoya am 22. Juli 2011 muss man die Frage, ob darüber ein Spielfilm gemacht werden „darf“, mit einem klaren Ja beantworten. Denn die Kunst kann es auch erreichen, dass den Menschen ein anderer, tieferer Blick auf solche Geschehen, die Teil des kollektiven Bewusstseins geworden sind, ermöglicht wird. Aber der Künstler hat natürlich eine besondere Verantwortung, wenn er sich dieser Herausforderung stellt. Wie solch eine Aufgabe sowohl ästhetisch wie auch menschlich angemessen gelöst werden kann, haben etwa Pablo Picasso mit dem Gemälde „Guernica“ und Claude Lanzmann mit seiner Dokumentation SHOAH gezeigt. Erik Poppe war sich der Fallen, die sich für ihn bei dem Projekt stellten, offensichtlich bewusst und er hat einen künstlerisch überzeugenden Weg gefunden, sie zu vermeiden. Zum einen besteht die Gefahr, dass der Film dem Genre Thriller zugeordnet wird und entsprechend als Unterhaltung konsumierbar ist. Zum anderen könnte der Film auf eine perfide Weise im Sinne des Attentäters wirken, denn ein entscheidender Teil der Strategie eines terroristischen Anschlags besteht darin, dass er in der Öffentlichkeit als eine Schreckenstat, mit der der Täter seine Ideologie durchsetzen will, wahrgenommen wird. Poppe hat einerseits konsequent vermieden, den Konventionen des Genres zu folgen. So zeigt er eben nicht, wie Menschen erschossen werden und er folgt keiner gängigen Dramaturgie mit Spannungsbögen und der Art, wie Täter, Helden und Opfer in fiktiven Filmen in der Regel repräsentiert werden. Und Poppe verzichtet ebenso konsequent darauf, vom Täter zu erzählen. Dessen Name fällt im ganzen Film nicht - auch nicht in den abschließenden Textzeilen, die für eine Einordnung des Gesehenen unerlässlich und kein Stilbruch sind, da sie am Schluss des Films aus diesem herausführen. Von diesem Ende und der Collage von Medienbildern des ersten Anschlags in Oslo am Anfang des Films abgesehen, wird in einer einzigen Einstellung von den 72 Minuten erzählt, die der Anschlag gedauert hat. Und zwar aus der Perspektive einer der Schüler*innen, die in dem Ferienlager auf der Insel das Attentat miterlebt. Poppe zwingt die Zuschauer geradezu, das Geschehen aus ihrem Blickwinkel mitzuerleben. Sie können so unmittelbar und sehr authentisch nachempfinden, was die Protagonisten Kaja sieht, weiß, tut und vor allem empfindet, denn der Schock, die Angst und das Entsetzen werden nicht durch die in fiktiven Filmen sonst üblichen Distanzierungsangebote wie Stilisierung, Typisierung, Perspektivwechsel oder auch die Montage gefiltert. Sowohl ästhetisch wie auch inhaltlich erzählt Poppe radikal im Sinne der Opfer. Und dass zu denen auch die Überlebenden (auf deren Aussagen das Drehbuch basiert) gehören, macht er mit einer oft schwer zu ertragenden Intensität deutlich, wenn er zeigt, wie traumatisch diese 72 Minuten für die Beteiligten waren.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)