Die Diagnose ist hart, plötzlich und schlägt eine tiefe Schneise in Lenas Leben: Aufgrund einer nicht behandelten Gehirnentzündung hat sie ihr biographisches Gedächtnis verloren. Sie weiß, dass Paris die Hauptstadt Frankreichs ist, sie weiß, wer die Kanzlerin ist - aber über sich selbst weiß sie nichts. Die Liebe zu ihrem Mann, die Beziehung zu Freunden und Kollegen, die Fähigkeit, Gefühle zuordnen zu können, all das fehlt Lena. Und ihr Mann Tore möchte es ihr wiedergeben. Er geht mit ihr an Orte, die sie liebte und erzählt ihr von all den Dingen, mit denen sie zu tun hatte. Doch Lena kann die Verbindung an die Vergangenheit nicht knüpfen. Sie weiß nicht, wer sie ist. Nur eines ist sicher: Sie wird nie mehr die Lena sein, die sie einmal war. Der neue Film von Jan Schomburg lässt dem Zuschauer kaum Zeit, Lena vor der schrecklichen Diagnose kennenzulernen. Mit ihr zusammen wird er mit dem Verlust von Lenas Identität konfrontiert und muss das Puzzle ihrer Persönlichkeit Stück für Stück zusammensetzen. In einer darstellerischen Tour-de-Force verkörpert Maria Schrader diese Frau, die sämtliche Gefühle neu lernen muss und verzweifelt versucht, es allen recht zu machen. Ihre „Gehversuche“ entbehren an manchen Stellen nicht einer subtilen Komik, wofür Schomburgs Drehbuch, das viele subtile Unter- und Halbtöne zulässt, immer wieder sorgt. Johannes Krisch ist ebenfalls großartig als Tore, der noch einmal einen anderen Blick auf das Geschehen ermöglicht. Nach und nach offenbart er die Verzweiflung des Ehemanns, der seine Frau wiederhaben möchte und feststellen muss, dass sie ihm entgleitet. So wie die Freunde, die nicht mehr wissen, ob die Frau vor ihnen noch „ihre“ Lena ist. Eine fast surreale und traumhafte Stimmung durchzieht viele Szenen, bis zum Schluss, als Lena feststellt, dass sowieso immer „eine Lücke bleiben wird“, und in die Unschärfe des Bildes entschwindet. Zwischen großen Gefühlen und trockener Ernüchterung changierendes, eindringliches Drama über das Vergessen der Identität. Und das Wiederfinden des Ichs.
Jurybegründung:
Es ist ein kaum vorstellbarer Albtraum: Nach einer Enzephalitis verliert Lena Ferben ihr biographisches Gedächtnis und hat keinerlei direkten Zugang mehr zu ihrem eigenen Ich. Sie schwebt in einem luftleeren Raum, in dem sie nichts mehr mit ihrer Biographie verbindet und in dem sie jeglichen Zugang zu Gefühlen und Menschen in ihrer Umgebung verloren hat. Dieser Gedächtnisschwund, eine sogenannte „retrograde Amnesie“, führt dazu, dass sie, um überhaupt noch als Mensch „funktionieren“ zu können, sich alles versucht anzulesen, was ihre Person einst ausgemacht hat. Sie lernt sich selbst wie eine Rolle auswendig und tastet sich mühsam an ihr früheres Leben heran. Ihr Mann Tore, mit dem sie seit vielen Jahren zusammen ist, bemüht sich, ihr dabei hilfreich zur Seite zu stehen, aber auch er stößt immer wieder an Grenzen, die er nicht überwinden kann. Vor allem aber beginnt Lena nach einem neuen Ich zu suchen, Erfahrungen zu sammeln, die sie längst verloren hat, und sich dadurch eine neue Persönlichkeit zu schaffen, die nur noch sehr vage mit ihrem alten Ich zu tun hat. Auch sie, die wie eine Schlafwandlerin durch die Ruinen ihres alten Lebens geht, wird dabei immer wieder auf Grenzen zurück geworfen, und da es ihr an der Möglichkeit mangelt, Empathie zu fühlen und emotionale Brücken zu bauen, verletzt sie auf ihrem Weg in ein neu bestimmtes Leben jene Menschen, die ihr nahe stehen. Maria Schrader verkörpert die Frau auf der Suche nach dem verlorenen Leben, bzw. nach einer neuen Identität mit großer Intensität und Authentizität. Aber auch die anderen Darsteller, allen voran Johannes Krisch in der Rolle des verzweifelten Ehemanns Tore, verleihen dieser dunklen Geschichte voller seelischer Abgründe eine starke emotionale Tiefe. Die Fragen, die der Film aufwirft, aber weder beantworten kann noch möchte, werden in immer neuen szenischen Konstellationen gestellt: Was bedeutet der Verlust der Biographie für das Überleben in alten familiären und gesellschaftlichen Gegebenheiten, wie kann man sich neu erfinden, wenn die Vergangenheit nicht mehr existiert, und wie können die davon genauso davon betroffenen Mitmenschen damit fertig werden? Ein verstörender Film, dessen Thema Parallelen zu den Dramen um Menschen mit Demenz und Alzheimer aufweist, die ja ähnlich wie Lena Ferben ihre Vergangenheit verlieren, anders aber als Lena keine Chance mehr haben, sich eine neue Biographie und ein anderes Ich zu erfinden.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)