Es ist vier Uhr morgens. Auf der Straße stehen vier Jungs und wollen ein Auto knacken. Wenige Minuten vorher haben sie in einem Club ein Mädchen getroffen. Ihr Name ist Victoria. Victoria kommt aus Spanien, ist seit drei Monaten in Berlin. Sie kennt noch niemanden, hat keine Freunde. Aber sie will etwas erleben. Was genau, das kann sie nicht sagen. Doch heute Nacht, um vier Uhr, kann alles passieren. Und in den nächsten zweieinhalb Stunden wird alles passieren. Zu Beginn des Films fängt die Kamera Victorias Gesicht ein. Und von diesem Moment an wird sie die Hauptdarstellerin Laia Costa auch nie wieder wirklich verlassen. Regisseur Sebastian Schipper und die großartigen Bilder des Kameramanns Sturla Brandth Grøvlen begleiten Victoria auf ihrem Weg in eine Nacht, deren Ausgang der Zuschauer fürchtet, herbeisehnt, entgegenfiebert. Der Film erzählt in nur einer einzigen Einstellung in Echtzeit. Die Filmzeit im Leben der Figuren ist Realzeit, die der Zuschauer mitgeht und mitgehen muss. Denn nicht nur schauspielerisch und inszenatorisch ist die Geschichte, die sich im Laufe der Zeit immer dramatischer zuspitzt, eine wahre Tour-de-force, die auch beim Zusehen mitnimmt, berührt und fesselt. Die Kamera macht den Zuschauer zum Komplizen. Immer ist sie dicht dabei, zeigt, wie sich Victoria und der Anführer der Jungs, Sonne, annähern und verlieben, zeigt, wie die Jungs in einer Gang von Außenseitern als Brüder füreinander einstehen, zeigt die Unausweichlichkeit jeder Handlung. Die Szenerie ist authentisch, das nächtliche Berlin ist nicht nur Setting, sondern zusätzliche Hauptfigur. Das Spiel aller Darsteller ist überzeugend, glaubwürdig, ohne Zweifel wahrhaftig. Allen voran leisten Laia Costa und Frederick Lau als Sonne Unglaubliches. Der Film nimmt sich zu Beginn Zeit, um diese beiden Figuren umeinander kreisen zu lassen. Doch diese Zeit ist gefüllt von kleinen und feinnuancierten Gesten, Blicken und Momenten, die selbst in der Ruhe vor dem Sturm Großes entstehen lassen. Die Tonebene und die Musik von Nils Frahm tun ihr Übriges, um die Handlung anzutreiben, Stimmung zu setzen und dem Film zusätzlich poetische Kraft zu verleihen. VICTORIA ist Überwältigungskino, ein wilder und rauer Trip, aber gleichzeitig auch Film in seiner reinen Form. Sebastian Schippers mutiges Experiment ist aufgegangen. Denn er findet die perfekte Form, um diese Geschichte zu erzählen. Und erschafft so kraftvolles und innovatives deutsches Kino. VICTORIA ist ein intensives Filmerlebnis, das man nicht mehr vergisst.
Jurybegründung:
Stroboskobgewitter und wummernde Bässe. In einem diffus-nebligen Etwas zeichnen sich allmählich Gestalten ab. VICTORIA beginnt in einer Berliner Diskothek Die Spanierin Victoria ist gerade auf dem Weg nach Hause, als sie Sonne, Boxer, Blinker und Fuß kennen lernt. Vier Berliner Jugendliche, die es offensichtlich mit dem Gesetz nicht so genau nehmen und in dieser Nacht heftig dem Alkohol zugesprochen haben. Victoria folgt den Vieren auf einem nächtlichen Streifzug durch Berlin, der ein böses Ende nehmen wird.
Wenn man hört dass VICTORIA in nur einer Einstellung, also ohne jeglichen Schnitt gedreht wurde, dann klingt das nach dem Purismus der dänischen Dogma-95-Filme. Von einem Dogma aber ist VICTORIA weit entfernt. Sebastian Schippers Film ist, da ist sich die Jury einig, ein unkonventioneller Thriller, eine irre Liebesgeschichte und ein rasanter Film Noir, der seine Zuschauer mit unglaublicher Wucht gefangen nimmt.
Dass Victorias Episode mit den vier Berlinern nicht gut enden wird, war der Jury von vorne herein klar, allein die Frage „wie das passieren wird“, war offen. Wer ein trauriges Kammerspiel mit vier kaputten Getto-Jugendlichen und einer unerfahrenen Berlinbesucherin erwartet, den wird „Victoria“ positiv überraschen. Nicht nur, weil sich der Film über eine große Fläche von Berlin-Mitte und Kreuzberg erstreckt, sondern weil sich Schipper als ein phänomenaler Dramaturg erweist.
Mit VICTORIA ist man auch als Berliner zu Gast in der eigenen Stadt. Der Film entführt in ein Milieu, das nur wenigen Kinogängern bekannt sein wird, in das der Jugendgangs. Der Film zeigt Sonne, Boxer, Blinker und Fuß nicht einfach nur als vier Nichtsnutze, sondern als Menschen, die Herz und Seele haben, und zwar so viel, dass die Spanierin Victoria Vertrauen entwickelt und sich völlig ungezwungen mit ihnen amüsieren kann. Und auch Victorias Motiv, die vier zu begleiten, wird deutlich herausgearbeitet.
Allein bei der Frage, ob es in diesem extrem realen Film glaubhaft sei, dass Victoria bis zum bitteren Ende bei ihren nächtlichen Zufallsbekannten geblieben ist, haben sich in der anschließenden Diskussion unterschiedliche Meinungen ergeben.
Letztlich fühlte sich die Jury aber, wie auch Victoria selbst, hinein gerissen in den Wirbel der nächtlichen Ereignisse. Sie konnte bestens nachvollziehen, wie aus den harmlosen Angebereien der Jugendlichen ernst wird und am Ende die nackte Angst ums Leben steht. Für diese Nähe zeichnet die bemerkenswerte Dramaturgie verantwortlich, aber auch die Kamera, die um die Darsteller tanzt und die Zuschauer vom ersten Moment an zu Mitspielern macht.
Aber VICTORIA ist nicht nur ein technisch beeindruckender und extrem gut getimter Film. Ein mindestens genauso dickes Lob gilt auch Schippers Ensemble. Die Jury war sich einig, seine Akteure spielen nicht, sie vermitteln Lebensgefühl. Was Frederick Lau., Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff und natürlich Laia Costa zwischen 4:30 h und 7:00 h morgens auf Berlins Straßen zeigen ist atemberaubendes Improvisationstheater. Ihre Überschwänglichkeit, ihre Angst und ihre Verzweiflung sind greifbar und haben sich spontan auf die Jury übertragen.
VICTORIA ist eine Tour de Force durch Milieu und Nacht, die man gerne auch ein zweites Mal anschaut. So viel Vehemenz, Mut und Kraft hat man selten auf der Leinwand erlebt, so dass die Jury dem Film gerne das Prädikat „besonders wertvoll“ erteilt.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)