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„Vortex“-Kritik: Gaspar Noé macht das Happy End zur Utopie

„Vortex“-Kritik: Gaspar Noé macht das Happy End zur Utopie
© Rapid Eye Movies

Aus eins wird zwei, der Splitscreen als Sinnbild für Entfremdung und geistige Isolation. Gaspar Noé zeigt in seinem neuen Film „Vortex“ eine belastende Alltäglichkeit und überrascht mit einem sanften Kino, das nichts an Intensität einbüßt.

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Ein altes Ehepaar stößt auf dem Balkon ihrer Pariser Wohnung aufeinander an. „Das Leben ist ein Traum in einem Traum“, stellt der Mann (Dario Argento) zufrieden fest und lächelt seiner Frau (Françoise Lebrun) entgegen. Die angesprochene Verschachtelung lässt der argentinisch-französische Filmemacher und Provokateur Gaspar Noé in seinem neuestem Kinofilm überall spürbar werden. Nicht zuletzt, weil er den Sehgewohnheiten des Publikums ein Bild im Bild entgegensetzt. Mit dem Splitscreen manifestiert sich nach dem Prolog auch das Schicksal des Ehepaars, das durch die Demenz-Erkrankung der Frau geprägt ist.

Wenn das Setting vom Balkon ins Schlafzimmer wechselt, platziert Noé die Kamera mit dem Blick von oben aufs Ehebett: Ganz plakativ liegen die beiden nebeneinander, man schaut und hört ihnen beim Atmen zu, vielleicht auch beim Träumen. Schließlich bahnt sich von der oberen Bildkante aus ein schwarzer Streifen seinen Weg – langsam, aber bedrohlich – und trennt das einstige Liebespaar in zwei Bildhälften, die fortan nur noch asynchron zueinander verlaufen.

Nach kurzer Zeit werden die ersten Anzeichen der Erkrankung sichtbar. Die Frau schleicht sich aus der verschachtelten Wohnung und schlendert ziellos durch Geschäfte, will zur Spielzeugabteilung und verliert die Orientierung. Wie es für Angehörige wahrscheinlich zum Alltag gehört, ist es ihr Mann, der sie suchen und zurück in die Wohnung bringen muss, den Schauplatz von „Vortex“, vollgestopft mit Erinnerungen, Büchern, und Alltagsgegenständen – für die Erkrankte nicht nur schützender Mikrokosmos, sondern auch ein mit Gefahren gespicktes Labyrinth. Krankheit, Abhängigkeit und Altern sind als Leitmotive tief in Noés Drama verankert. Wie kann es weitergehen, wenn sich jemand nicht mehr erinnert und die Realität verkennt?

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Während der ebenso gesundheitlich angeschlagene Mann sein neues Buch fertigstellen will und Kontakt zur Geliebten sucht, erschließt sich die Frau die gemeinsame Wohnung immer wieder aufs Neue, durchkämmt Räume, Papiere, ordnet und kramt, was dem Partner missfällt, weil es ihren geistigen Zerfall sichtbar werden lässt. Die sich stetig verändernden Perspektiven im Splitscreen lassen kaum Orientierung zu. Allein technisch ist „Vortex“ ein hochkomplexer Film, der den für die Demenzerkrankung typischen Verlust kognitiver Fähigkeiten auf der Bildebene spiegelt.

„Alle Filme sind Träume“

Als Schauplatz für die durch Krankheit bedingte Entfremdung des Ehepaars wird ihre Pariser Wohnung zum verwinkelten Dreh- und Angelpunkt einer betagten Zweckgemeinschaft – bis dass der Tod sie scheidet. Wenn auch oft durch Wände, Fenster oder Bücherstapel räumlich getrennt, kreuzt sich der Weg des Paars unvermeidbar. Gelitten wird in „Vortex“ still, nur selten bahnt sich die Wut und Verzweiflung ihren Weg, wenn sich die Frau zum Kind zurückentwickelt, das manchmal nicht reagiert und sanften Zuspruch braucht. Als Paar entwickeln sie sich nicht mehr zusammen, sondern gegeneinander. Während der Mann von der Fertigstellung seines Manuskripts träumt, landet dies in der Toilette, weil die Frau des vermeintlichen Papiermülls auf dem Schreibtisch überdrüssig wird. „Alle Filme sind Träume“,  sprudelt es aus dem Filmkritiker zuvor bei einem Telefongespräch heraus. Mit einem Cineasten als Protagonist verschreibt sich Noé in seinem Film auch der Liebe zum Kino, das immer wieder Thema ist. Wenn die Musik von Ennio Morricone und Georges Delerue ertönt, steuert das Drama unweigerlich auf sein Ende zu.

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Paris steht Kopf

In kindlicher Angst zieht sich die demente Frau das Laken über den Kopf und ergibt sich ihrem Schicksal, das ein von ihr gewähltes ist. Noé lässt seiner Protagonistin einen letzten Akt der Selbstbestimmtheit, wenn sie ihre Medikamente im Strudel der Toilette verschwinden lässt und beschließt, dass ein Heim kein Ort zum Sterben ist. Alles löst sich auf, die Stapel und Kisten und Bücher verschwinden. Am Schluss bleibt eine gespenstische Leere, bevor Noé Paris Kopf stehen lässt und damit einmal mehr sein eigenes Kino zitiert.

Das Ende ist ein andächtiges, ein letztes Mal wird an das erinnert, was einmal war. Wie auch bei „Climax“ stellt Noé seinem Film sinngemäß und pragmatisch den Abspann voran – was soll schon kommen nach dem Tod?

„Vortex“ ist nicht das gewohnt provokante Kino des französisch-argentinischen Enfant terrible, aber gleichermaßen herausfordernd wie dessen Vorgängerfilme. Noés Film ist ein persönlicher und reifer, der so vielschichtig und komplex ist wie die thematisierte Erkrankung, die der Filmemacher kompromisslos und zugleich behutsam in die Lebensrealität zweier Senior*innen einbettet. Einmal mehr beweist der 58-jährige Visionär, dass er seine Bilder meisterlich zu komponieren weiß und nur wenig dem Zufall überlässt. Im Gegensatz zu „Climax“, „Enter The Void“ und „Love“ ist sein neuester Film kein Erlebnis, sondern vielmehr ein Erleben zweier Realitäten, die zunehmend voneinander isoliert koexistieren. Der bei Noés Kino so bekannte Sog ist bei „Vortex“ ein entschleunigter, in eine Welt führend, die nicht mal mehr Erinnerungen zulässt – gewidmet all denjenigen, „deren Hirn sich früher zersetzen wird als ihr Herz.“

„Vortex“ läuft seit dem 28. April in den deutschen Kinos.

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