Bergfest bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin. Obwohl die gestern gewonnenen Eindrücke noch nachwirken, muss gedanklich Platz für Neues geschaffen werden. Was folgt, ist ein Tag der Begegnungen.
Beim Berlinale Summer Special präsentieren die 71. Internationalen Filmfestspiele Berlin 126 Filme fürs öffentliche Publikum. Wegen der Coronapandemie findet das besondere Event vom 9. bis zum 20. Juni als reine Open-Air-Veranstaltung statt. Auf www.berlinale.de findet ihr alle Infos zum Programm, zu den Spielstätten und den Tickets.
Das Aufstehen fällt schwer, den gestrigen Tag habe ich mit dem soghaft wahnwitzigen Debüt „The Scary of Sixty-First“ wohl etwas zu spät ausklingen lassen. Ich bin unsicher, in welchem Genre ich den Film verorten würde, stilistisch hat er bei mir jedenfalls in die richtige Kerbe geschlagen: ein wunderbar entrücktes Fiebertraum-Szenario, das sich den mittlerweile verstorbenen, milliardenschweren Sexualstraftäter Jeffrey Epstein zur Brust nimmt.
Wenige Stunden und einen Sonnenaufgang später schlürfe ich also etwas verschlafen zur Couch, die Kaffeetasse umklammere ich fester als die Tage zuvor, das Prozedere bleibt aber das Immergleiche. Auf den neuen Film der französischen Regisseurin Céline Sciamma („Tomboy“, „Porträt einer jungen Frau in Flammen“) freue ich mich schon lange. Für einen hoffentlich guten Start in den Tag soll „Petite Maman“ mein erster Programmpunkt sein.
Nachfühlen mit Sciamma
Der im Wettbewerb laufende Film ist ein zurückhaltend melancholischer Versuch, krisenhafte Themen wie Verlust, körperliche Verwundbarkeit und Depression aus kindlicher Perspektive neu zu denken und zu bewerten. Nach dem Tod ihrer Großmutter soll die achtjährige Nelly (Joséphine Sanz) gemeinsam mit ihren Eltern das kleine Waldhaus ausräumen. Während sich ihre Mutter Marion (Nina Meurisse) der Situation nicht gewachsen fühlt und deswegen abreist, erkundet Nelly in kindlicher Neugier die Umgebung: Bei einem Alleingang durch das umliegende Waldstück trifft sie auf das gleichaltrige Mädchen Marion (Gabrielle Sanz).
Schon beim ersten Zusammentreffen wird deutlich, dass diese Begegnung eine schicksalhafte ist, sehen sich die beiden Kinder doch zum Verwechseln ähnlich. Was folgt, ist ein sensibles und spielerisches Herantasten an scheinbar unterschiedliche Lebenswelten und das Nachempfinden gleichen Schmerzes, während Sciamma das Zeit- und Raumgefüge ihrer Geschichte behutsam enthebelt. Ihre Protagonistinnen werden am Ende zu regelrecht heldenhaften, denn ihr spielerischer Umgang mit Trauer, Schuldgefühlen und Ängsten zeigt einmal mehr, wie schwer die Bürde des Erwachsenseins auf der eigenen Gefühlswelt lastet.
Fluch und Segen
Von der einen zur nächsten Begegnung: Alexandre Koberidze hat mit seinem Wettbewerbsbeitrag „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ eine erstaunlich poetische Erzählung über zwei Heranwachsende geschaffen, die sich gleich zweimal im Leben zum ersten Mal begegnen.
Schuld an dem seltsam anmutenden Ablauf der Geschichte ist ein wohl zum schlechtesten Zeitpunkt auftretender Fluch – Liebe auf den ersten Blick für Lisa (Ani Karseladze) und Georgi (Giorgi Bochorishvili). Auf die erste zufällige Begegnung soll eine verheißungsvolle Verabredung folgen, doch die beiden wurden dazu verdammt, am nächsten Morgen mit einem anderen Aussehen zu erwachen. Und so kommt es, dass sich Lisa und Georgi verpassen, nichtsahnend, dass sie dasselbe Schicksal teilen und im georgischen Kutaissi tagtäglich aneinander vorbeilaufen, immer wartend auf den/die jeweils andere*n. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich ihrem (neuen) Alltag zu widmen. Zeit verstreicht, Fußballspiele halten die Stadtbewohner*innen in Atem, Straßenhunde verhandeln Treffpunkte aus, die Kinder warten darauf, dass die Eismaschine wieder funktioniert. Koberidze versteht es, selbstreflexive Momente klug und behutsam in seine Erzählung einzuflechten: So werden Lisa und Giorgi ausgerechnet durch ein Filmteam zu einer längst überfälligen Symbiose gezwungen. Die filmische Schicksalserzählung des mehrfach ausgezeichneten DFFB-Absolventen beschäftigt mich noch lange nach dem Abspann, die träumerische Ziellosigkeit der Bilder und die spürbare Liebe zu den eigenen Protagonist*innen lässt mich das Kino, das gerade nicht sein darf, umso mehr vermissen.
Voyeur*in sein
Meine letzten Begegnungen für heute verorte ich im nächsten Wettbewerbsfilm, Bence Fliegaufs „Forest – I See You Everywhere“. Der Ungar fädelt Streitgespräche, anklagende Vorträge, haltsuchende Ansprachen und fürsorgliche Gesten in familiären oder amourösen Kontexten aneinander und lässt seine Zuschauer*innen schamlos die externalisierten und einst inneren Konflikte seiner Protagonist*innen beschauen. Hier ist jede Begegnung eine schmerzhafte. Trotz der pragmatischen äußeren Form beobachtet Fliegauf höchst präzise, wie emotionale Verletzungen auf die eigene Umwelt abfärben, sie schädigen und folgenreiche Kurzschlussreaktionen provozieren können.
Um viele filmische Eindrücke reicher verordne ich mir nach dem Wettbewerbstrio eine Pause, schreibe meine Erkenntnisse auf und schaue auf den morgigen Tag, den ich etwas spontaner und wettbewerbsferner angehen will. Für heute nehme ich mir nur noch einen Film vor, weil ich nicht daran glaube, dass mich nach 24 Uhr noch der Ehrgeiz packen wird – zu lebhaft ist meine Erinnerung an den schwerfälligen Morgen.
Das Lesen anderer Berichte zur Berlinale ist für mich übrigens zu einer willkommenen Ersatzhandlung für nicht stattfindende Gespräche mit anderen Festivalteilnehmer*innen geworden. Eben auch eine Art der Begegnung, wenn auch nur eine erträumte.