Wer ist Hanna? Hanna ist eine 16jährige, die abgeschlossen von der Welt allein mit ihrem Vater ihr Leben in einer Blockhütte in der Wildnis Finnlands verbracht hat. Hanna ist ein Wildfang, ein unzivilisiertes Naturkind, für das nur unmittelbare Bedürfnisse zählen: jagen, essen, schlafen, kämpfen. Hanna ist eine Killerin, vom Vater ausgebildet, mit einem bestimmten Ziel: Marissa Wiegler. Hanna kann kämpfen, schlagen, töten. Hanna kann überleben.
Aus der Einsamkeit des Winterwaldes hinaus in die Welt, aus der Heimeligkeit der väterlichen Hütte ins fremde, feindliche Land: die Märchenhaftigkeit dieser Story unterstreicht Regisseur Joe Wright, indem er seine Geschichte bei jeder Gelegenheit mit mythischen Anklängen unterfüttert. Aufwachsen in der einsamen Waldhütte, das Verlassen des Heims und des Vaters, die Konfrontation mit Marissa, der bösen Hexe, das Finale in einem verlassenen, halb verfallenen Märchenpark, in dem ein Lebkuchenhaus steht
Hanna ist die unschuldige Märchenheldin, die ihre magischen Fähigkeiten auf die rechte Weise gebrauchen muss, um ans Ziel zu gelangen.
Sehr geschickt ist der Kniff der märchenhaften Stilisierung, und geschickt spielt Regisseur Joe Wright mit den Konventionen des Action- und Agententhrillergenres: Hier steht eine Teenagerin im Mittelpunkt, einerseits verletzlich und voll Unschuld, andererseits eine harte Kämpferin, die über Leichen geht. Dazu kommen ironische Überhöhungen: etwa eine gewaltige unterirdische CIA-Geheimzentrale mit enormen Beton-Katakomben und Röhren-Labyrinthen, aus denen Hanna mit viel Schmackes, Kampf- und Schießkunst flieht. Oder ein sadistischer Verfolger, ein eiskalter Blonder, Sexklubbesitzer aus Hamburg und zielstrebiger, unaufhaltsamer Killer wie aus den 007-Filmen der 70er.. Dazu eine Menge harter Nahkämpfe mit Fausten und Messern, Martial-Arts-Moves und Schmerzen.
Hier geht der Film mit großem Humor vor, ohne die spannende, mythisch-mysteriöse Geschichte zu verraten. Und darüber hinaus durchsetzt Wright seine wilde Story mit einer realistischen Ebene, die eine Coming-of-Age-Geschichte erzählt: Den Weg aus der Jugend ins Erwachsenwerden, aus der Natur in die Kultur, den Weg von Einsamkeit hin zu sozialer Interaktion: eine Geschichte davon, wie ein Mädchen Freundschaft kennenlernt, Menschheit und Menschlichkeit, sich selbst.
Diese education sentimentale ist eine Art Gegengewicht zum Actionthrill der Handlung doch leider ergänzen sich die beiden Ansätze nicht. Was für sich genommen funktioniert, verliert im Zusammenspiel seine Wirkung. Zu sehr voneinander abgekapselt sind die verschiedenen Aspekte des komplexen Films, zu sehr ist bestimmten Szenen ihre Funktion anzumerken, zu sehr sind die Sphären des Films voneinander getrennt: Hier der smarte Action-Thriller, da der Entwicklungsroman einer jungen Frau beides steht nebeneinander und durchdringt sich nicht.
Und manches ist zu platt erzählt: wie Hanna gleichzeitig mit Lichtschalter, Fernseher, Wasserkocher, Telefon, Musik konfrontiert wird und völlig überfordert ist (womit der Film den Schock der Zivilisation auf das Naturkind abgehakt hat); wie sie sich teenagermäßig einem spanischen Jungen nähert, alles in der Theorie von Lexikonwissen über die Muskelbewegungen beim Küssen weiß und ihn dann aufs Kreuz legt. Anderes ist zu wenig ausgehandelt: wie ihr Vater eine eigene Privat-Mythologie zurechtgebastelt hat, um sie auf das Ziel, auf Marissa, abzurichten. Das große Geheimnis ihrer Existenz schließlich ist überbetont, recht vorhersehbar und eigentlich für die Geschichte eher belanglos. Mitunter gibt es vor allem zum Ende hin zu viel Hin und Her in der Dramaturgie.
Die Darsteller freilich helfen dem Film: Saoirse Ronan, die schon in Peter Jacksons In meinem Himmel außerhalb der Welt stand, spielt hier eine Verlorene, die gewinnen muss. Cate Blanchett ist hexenhaft kalt, Eric Bana spielt den Vater, der immer CIA-Killer bleiben wird. Und in der britischen Urlauberfamilie, mit der Hanna als Anhalterin reist, hängen die Eltern Aussteiger-Hippie-Träumen nach, während die Tochter völlig im Zeitalter künstlicher Popkultur gefangen ist: das sind starke Charaktere, die die Handlung auch über ein paar Holprigkeiten tragen.
Nicht zuletzt machen vornehmlich die Actionsequenzen Spaß, die kleinen und großen Momente, in denen der Film jeden Realismus hinter sich lässt und reines Kino bietet. Wäre Wer ist Hanna? besser abgemischt die Ebene von Charakterentwicklung und Märchen-Mythen-Genreüberhöhung , hätte etwas wirklich Großes daraus werden können.
Fazit: Der dolle Kniff, in den Mittelpunkt einer Action-Agentenhandlung eine Teenagerin zu stellen, ist wirklich originell. Leider klappt die Mischung von Thriller und Coming of Age-Geschichte nicht so recht.