Durch den Dokumentarfilm Black Box BRD ist Andres Veiel bekannt geworden und widmet sich mit Wer wenn nicht wir erneut der politischen Terrorgewalt in Deutschland zumindest deren Anfängen, und diesmal in Form eines Spielfilms.
Studentenkrawalle und Anti-Schah-Demo, die Schüsse auf Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke, dazu die medialen Bilderschleifen von Vietnamkriegsbombern: Veiel sind, wie er immer wieder betont, diese Erklärungsansätze und vorgeblichen Geburtsmomente des Linksterrorismus der Roten Armee Fraktion zu simpel und kurzgedacht. Mehr gäbe es zu erzählen, vorher bereits anzusetzen, vor allem die Brüche, Widersprüche, Alternativen und das ambivalente Verhältnis der 68er-Kinder zur ihren Eltern bzw. deren Vergangenheit und Lebensvorgaben zu beleuchten.
Wo also Der Baader Meinhof Komplex rasantes Actionkino ist, ist Wer wenn nicht wir Entwicklungs- und Beziehungsdrama: das von Bernward Vesper und Gudrun Ensslin, die beide so unterschiedliche Wege genommen haben. Bernward Vesper wählte letztlich, nachdem er sich in seinem berühmten irrlichternden Roman(fragment) [i]Die Reise[/i] literarisch ausgebrannt, ausgekotzt hatte, den Freitod; Ensslin, die ihn und ihren gemeinsamen Sohn für Andreas Baader, die RAF und den idealistischen Untergrundkampf gegen das Schweinesystem verließ, den Terrorismus und schließlich auch den Selbstmord, in Stammheim 1977.
Die letzte Konsequenz dieses Aufbegehrens und der Selbstsuche zeigt der Film nicht, reicht sie nur als Texttafel nach, denn der Weg dahin, der über die historisch-biographischen Stationen von Vesper und Ensslin führt, ist das Ziel. Das kleine Tübingen, freundschaftliches Fachsimpeln und Streiten mit dem berühmten Literaturprofessor Jens, Vespers und Ensslins Verlagsarbeit, mit der sie zunächst Werke von Bernwards (Über-) Vater, dem Blut- und Boden-Dichter Will Vesper neu herausbringen, dann Anti-Atombomben-Texte; die Kontakte mit der SPD, später der Kommune 1. Dazwischen: Liebesfreud und Liebesleid, jeder schläft mal mit dem anderen. Wer wenn nicht wir zeigt, wie neue Zeiten einbrechen in das piefige Nachkriegswestdeutschland, demonstriert die ersten vorsichtigen Schritte der sexuellen Befreiung, politisches Engagement weltweit, gegen Krieg, gegen Unterdrückung. Erstes, vorsichtiges, schließlich immer mutigeres Auflehnen.
Das ist hübsch anzuschauen und in sorgfältige Schauwerte der visuellen Rekonstruktion gehüllt, gerät politisch, historisch, vor allem aber erzählerisch hüftsteif, vor allem leicht schablobenhaft. Nicht nur, dass mindestens die Hälfte der Dialoge dazu dienen, das Publikum hölzern in die Um- und Zustände einzuführen (Stichwort: Kuppelparagraph) und die Figuren zum Aufsagen allgemeiner politischen Slogans herhalten müssen, die Begründungs- und Herleitungsmuster, die Veiel bemüht, sind nicht neu (macht ja nichts), vor allem aber stereotyp vereinfacht dargeboten wogegen freilich die beiden Hauptdarsteller zu arbeiten wissen.
Hauptfigur ist erst Vesper, dann Ensslin und zuletzt wieder Vesper. August Diehl (Dr. Alemán, Die kommenden Tage, 23 Nichts ist wie es scheint) spielt ihn wie August Diehl seine Getriebenen immer spielt: intelligent, arrogant, verletzlich, ein bisschen besessen Mitleid bekommt man mit ihm und zugleich ist dieser Vesper immer auch ein wenig unheimlich, ein wenig irr. Mit ihm und seinem Papa (trutzig: Thomas Thieme) wird die Nazi-Vergangenheit, die in die damalige Gegenwart reichte, bis hin zum Klischee illustriert: Antisemtische Sprüche in der kalten, steifen Bürgervilla, mangelnde Anerkennung und fehlende Wärme das und wie Bernward darin immer mehr den Verstand verliert, ist so zwangsläufig vom Ende her gedacht und kommt daher wie in einem Schauerfamilienroman. Er sei ein Sohn Hitlers (denn der Führer habe sich Kinder gewünscht, nicht der Vater), sagt ihm die Mutter beim Essen auf den Kopf zu. Ebenso überdeutlich: Das müsse man mal wieder auflegen, sinniert der Papa quasi auf dem Totenbett, was als Erklärung für die Verlegerschaft des Sohnes herhält.
Holzschnittartige Pseudoambivalenz hier, und auf der anderen Seite ist es nur wenig besser: Bei den Ensslins hängt von vornherein der Haussegen schief, Tochter Gudrun (die einzige, die studieren darf! Wird zweimal erwähnt, damit wir ja nicht vergessen, wie es den Töchtern damals wertschätzungsmäßig so erging!), macht ihrem Pastorenvater Vorwürfe wegen seines Einsatzes im Dritten Reich. Lena Lauzemis spielt diese Gudrun voller Tatendrang und Feuer, aber auch mit einer inneren Ortlosigkeit und Verzweiflung, zwischen Kraft und Zerbrechlichkeit, dass es schlicht brillant ist oder zumindest überaus mitreißend. Diese Gudrun ist eine Getriebene und Selbstquälerische, die sich mehrfach selbst verletzt, und man weiß nicht ob aus Selbsthass, Selbstdisziplinierung oder Ansporn; wahrscheinlich alles zusammen und nichts (oder noch mehr) davon. So vielschichtig diese Gudrun jedoch ist, so unterschiedlich und divergent die Kräfte, die an ihr Zerren und ihr Entscheidungen in Sachen Lebensweg und -führung abverlangen, jedoch: Lediglich hölzern und altbacken geraten diese Verhältnisse und das muffige Elternhaus in ihrer Beschreibung und Schuldzuschreibung. Eng, duster halt: steif-protestantisch ist die Stube der Eltern, feige-autoritär der Papa. Warum man sich an solchen bisweilen karikaturesken Erzeugern abzukämpfen hat, bleibt zumindest in diesem Film ein Rätsel.
So kommen die Feindbilder und mit ihnen die Erklärungsmuster in Wer wenn nicht wir aus dem Museum wie die feine und detailfreudige Ausstattung, die Kostüme und Frisuren. Wie bei der Baader Meinhof Komplex dienen in diesem So-war-es-Kino Film- und Fernsehausschnitte und der Soundtrack als altbekanntes Zeitreisemittel. Und so neu ist die
Beleuchtung dieses Vorlaufs von Studentenprotesten und RAF auch nicht, geschweige denn eben in seinen Mitteln originell (gewitzter und nachdenklicher machte z.B. schon vor über 20 Jahren Die bleierne Zeit, gerade was die Familienproblematik anbelangt). Mehr noch: Selbst wenn Gudruns jüngere Schwester der Mama am Telefon erklärt, die Gudrun könne jetzt nicht, weil die eben gerade im Bett liege; nein, nicht Bernward dann ist das notwendiger, weil mal nicht bedeutungs- und geschichtsschwerer Lacher. Letztlich aber erscheint es in einem Film von 2011 doch so bemüht wild und frech wie der Otto-Waalkes-Humor von dereinst heutzutage anarchisch wirkt.
Wie angestrengt und letztlich seltsam verklemmt wird dem Welt- und Zeitgeist nachgespürt, der da in und mit Bernward und Ulrike waltete (die letztlich doch und wider alle Beteuerungen der Filmemacher und mancher Kritiker nie oder bestenfalls selten in Wer wenn nicht wir den Eindruck machen, als wäre ihre Leben nicht durch ihre Geschichte und die der BRD, sprich: dem Linksradikalismus prädestiniert)! Das zeigt allein und vor allem die Figur des Andreas Baader. Eigentlich die dritte große Figur des Films, erscheint er kurz vor Schluss und quasi aus dem Nichts. Veiel weiß eigentlich nichts mit ihm anzufangen, außer ihn als Gegen-Vesper, als Macher und Macho auf Gudrun loszulassen, auf dass er sie schließlich mit in die Kriminalität zieht. Was ihn antreibt, gar ausmacht, bleibt in Dunkeln, passt nicht ins Konzept, und wie ihn der hier alleingelassene, eigentlich ganz kompetente Alexander Fehling (Am Ende kommen die Touristen, Goethe!, 13 Semester) mühselig und hölzern dahinposiert ist bisweilen so unfreiwillig skurril und amüsant wie der Auftritt bekannter oder unbekannter Schauspieler in Historiendramen, die große geschichtliche Namen nachspielen, auf dass man Schau mal! ruft, auf Frisur und einen typischen Ausdruck deutet und sich freut wie in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Ja, unser Baader aus dem Schnippelbuch. Wie gut er doch vor allem mit seinen (anderen!) Schauspielern zu arbeiten weiß was das Thema anbelangt und diese Figur betrifft, wünscht man sich Veiel zurück ins Dokumentar-Metier.
Fazit: Der Baader Meinhof Komplex mit weniger Action und mehr Seelen- und Beziehungsleid: Dank seiner beiden Hauptdarsteller (vor allem der Newcomerin Lauzemis) und der Geschichte ihrer Protagonisten ein famoses Drama, das aber in Gänze nur zum netten Historienfilm gerät, weil Veiel es nicht für sich belässt, sondern abgenutzt und bisweilen simpel in die (oder als) (RAF-Vor-) [i]Geschichte[/i] presst.