Ursula Meier beschreibt ihn ihrem Film "Winterdieb" mit virtuoser Detailliertheit das Oben und das Unten: das helle Weiß, die Sonne, die Urlaubsfreuden, der Luxus der Reichen und unten die bedrückende Enge des Tales, das Braun des schneearmen Winters; die Erbärmlichkeit des Lebens. Simon wohnt dort in einer kleinen Wohnung mit seiner viel älteren Schwester, die als Nichtsnutz in den Tag lebt und die Verantwortung für Finanzen, Haushalt und tägliche Organisation an sich gern an den zwölfjährigen Simon weitergibt - er bringt seine Protofamilie durch.
Diese Zweierbeziehung hat ihre eigene Dynamik, das Kind erzieht die Erwachsene, die Rollen sind verkehrt; und zugleich ist Simon ein Kind geblieben, er sehnt sich nach Zuwendung. Er will seine ältere Schwester lieben, damit sie ihn wiederliebt. Und sieht dabei ihre Unzulänglichkeiten, ihre Anomalie. Als wir Louise das erste Mal sehen, hockt sie sich hinter einen kümmerlichen Busch, um zu pinkeln. Später lässt sie Simon diesen Busch absägen, es ist schließlich Weihnachten, da muss ein Baum her. Später, in einer intensiv berührenden Szene, bittet Simon Louise um ein klein wenig Zärtlichkeit, will nachts in ihr Bett kuscheln und bietet Geld, Geld, das er nur für sie, für die Zweisamkeit der Familie zusammengeklaut hat: 150 Franken; und sie verlangt 200!
Simon-Darsteller Kacey Mottet Klein war zur Drehzeit 13 Jahre alt und Laiendarsteller, als ihn Ursula Meier für ihren Debütfilm "Home" im Jahr 2008 entdeckte. Nun schafft er es, den Mittelpunkt eines ganzen Filmes zu bilden - eine große Leistung. Unterstützt wird er von Léa Seydoux, die sich derzeit vom Geheimtipp zum Star hocharbeitet in Filmrollen, die unterschiedlicher kaum sein könnten hier spielt sie überzeugend die apathische Unterschichtlerin, die vom Leben nichts mehr erwartet. In einer Nebenrolle: Gillian Anderson, von den "X-Files" ins Charakterfach gesprungen. Sie spielt eine Mutter, die mit ihren Kindern auf Skiurlaub ist und an die sich Simon zeitweilig anhängt, auf der Suche nach familiärem Feeling.
Dies ist einer der Ansätze, an denen der Film "Winterdieb" so etwas wie eine durchgehende, stringente Handlung entwickeln könnte. Ein anderer findet sich, als Simon einmal erwischt wird, in den Keller eines Restaurants gesperrt wird und im schottischen Küchenjungen unerwartet einen Hehler für seine gestohlenen Skier findet. Doch solche Handlungsrudimente bleiben Episode, Meier hat kein Interesse an einer durchgehenden Geschichte. Das freilich lässt den Film mitunter etwas zäh wirken trotz seiner Qualitäten , zumal Meier andererseits eben auch nicht an überraschenden Wendungen spart.
Am Ende dann gibt sie ihrem Film eine neue, irreale Qualität, wenn alles vorbei ist, wenn die Touristen weggefahren sind, das Restaurant geschlossen ist, der Schnee auch oben auf dem Berg schmilzt. Simon wandert durch die verlassenen Gebäude, über die abgetaute Berglandschaft - er ist verloren in einer Leere, die nichts bietet. Die Saison ist vorbei, auch für Simon, der ein bisschen älter, ein bisschen erwachsener geworden ist. Und für den sich doch auf absehbare Zeit nichts ändern wird.
Fazit: "Winterdieb" ist ein einfühlsam geschildertes Porträt einer verelendeten Kleinfamilie, das den Kontrast zwischen der Armut im Tal und dem Reichtum oben auf dem Berg, bei den Skifahrern, herausarbeitet. Trotz seiner Qualitäten bei den Schauspielern, leidet der Film darunter, dass zu viele Handlungsansätze und Wendungen zu nichts führen.