Seid ihr auch aus dem Kino gekommen und habt euch gefragt, was uns „Wir“ nun genau sagen will? Woher kommen die Doppelgänger? Was symbolisieren die Hasen? Und was bedeutet der Psalm Jeremiah 11:11? Wir haben das Ende von „Wir“ interpretiert.
(Achtung, es folgen Spoiler für den gesamten Film. Den Artikel solltet ihr nur lesen, wenn ihr „Wir“ gesehen habt.)
Das Ende ist im Prinzip leicht verständlich. Ada wurde als Kind von ihrem „bösen Zwilling“ ersetzt. Das heißt, dass die erwachsene Mutter, gespielt von Lupita Nyong’o, nicht die echte Ada ist, sondern ihre Doppelgängerin. Das ist der Grund, warum Unterwelt-Ada zeitlebens Angst vor der Rache der echten Ada hatte. Nur ihr kleiner Sohn (Evan Alex) durchschaut seine Mutter am Ende und begutachtet sie mit misstrauischem Blick. Das Schicksal der Familie in der post-apokalyptischen Welt bleibt offen.
In der Unterwelt wird die echte Ada nach ihrer Entführung zur gestörten Red. Sie hat das schöne Leben an der Oberwelt kennengelernt. Deshalb kann sie sich auch als einzige unter den Unterweltlern verständigen. Am Ende wird die echte Ada/später Red zwar von ihrer Doppelgängerin getötet, doch dafür hat sie ihren Leidensgenossen ein Leben an der Oberwelt ermöglicht. Am Ende haben die zombiehaften Zwillinge gewonnen und die Menschheit ist, bis auf wenige Überlebende, ausgerottet. Was sie danach wollen, bleibt unklar.
Das ist natürlich nur eine oberflächliche Erklärung des Twists. Regisseur Jordan Peele setzt auf den zweiten Blick vor allem auf Gesellschaftskritik.
Ein amerikanischer Albtraum
„Wir sind Amerikaner!“: Das ist der Satz, mit dem die bedrohliche Red ihre Identität auf den Punkt bringt. In einem Interview mit The Guardian erklärt Peele, dass er mit „Wir“ die aktuelle Lage der amerikanischen Gesellschaft kommentieren will:
„Wir sind unser eigener Feind. Nicht nur als Individuen, sondern auch als Gruppe, als Familie, als Gesellschaft, als Land, als Welt. Wir haben Angst vor dem schattenhaften, mysteriösen Anderen, das uns töten und unsere Jobs wegnehmen will. Stattdessen sollten wir lieber Angst vor uns selbst haben, vor unsere Sünden, vor unserer Schuld und vor unserem Beitrag, zu unserem eigenen Untergang … Niemand trägt die Verantwortung für die aktuelle Lage. Unsere eigenen Fehler einsehen, uns die Schuld für die Probleme dieser Welt eingestehen, das tun wir momentan nicht.“
Klimaerwärmung, Umweltverschmutzung und ungezügelter Kapitalismus - wir haben Angst davor, unseren gemütlichen Lebensstil wollen wir aber nicht aufgeben. In „Wir“ verwandelt sich die amerikanische/westliche Gesellschaft in ein Horrorszenario. Das verdeutlicht Peele mit einer eindringlichen Parallelmontage, die das Leben der zwei Adas gegenübergestellt. Die einen amüsieren sich im Vergnügungspark, die anderen siechen als willenlose Marionetten vor sich hin.
Wir gehen in den H&M, woanders nähen Menschen 14 Stunden lang Knöpfe an. Nur zu gern verdrängen wir die düsteren Schattenseiten unserer privilegierten Gesellschaft. Doch das Leid der anderen holt uns laut „Wir“ früher oder später ein.
Die Angst vor dem Abstieg
In diesem Kontext stehen die beiden Adas für zwei Prototypen der westlichen Gesellschaft: Den sozialen Absteiger und den Aufsteiger. Die echte Ada hat als Kind gut gelebt und ist später tief gefallen. Wie so viele sozial Abgehängte möchte sie wieder nach „oben“ kommen.
In ihrem letzten Monolog beschreibt Ada/später Red die Herkunft der Zwillinge. Sie seien Teil einer grausamen Regierungsverschwörung, zwar aus Fleisch und Blut, aber „ohne Seele“. Ob ihre Erklärung stimmt, mag mal dahingestellt sein. Immerhin wurde sie an der Oberwelt geboren und gehört nicht wirklich dazu. Das Thema der Verschwörung bekommt in „Wir“ jedoch eine tiefere Bedeutung.
Schon zu Beginn stellt ein Zwischentitel die Prämisse des Films als eine Art krude Verschwörungstheorie vor. Flatearthers, Eidechsenmenschen und Reichsbürger - oft steigern sich Abgehängte oder die, die sich dafür halten, in die absurdesten Ideen hinein. Im besten Fall macht der Hass auf die da „oben“ das Leben erträglicher. Im schlimmsten Fall entfachen solche Parallelgesellschaften destruktive Kräfte.
Auf der anderen Seite der Medaille steht die Doppelgänger-Ada für den sozialen Aufsteiger. Einst war sie ganz unten, durch einen glücklichen Zufall schafft sie es nach oben. Ada und ihre Familie gehören zur gut situierten Mittelschicht. Es gibt da nur ein Problem. Sie antizipiert in ihrem tiefsten Inneren den Absturz.
Das sogenannte Hochstapler-Syndrom (auch Imposter-Syndrom) bezeichnet ein psychologisches Phänomen, bei dem ein Mensch trotz seiner Kompetenz von starken Selbstzweifeln geplagt wird. Dazu gesellen sich tiefsitzende Schuldgefühle, da er beim Aufstieg oft seine kulturelle Identität aufgeben muss.
Als Teil der Mittelschicht fürchtet sich Doppelgänger-Ada vor dem drohenden Abstieg und tritt deswegen kräftig nach unten. Ausländer, Flüchtlinge und Arbeitslose werden in unserer Gesellschaft oft zum dämonischen Anderen, das uns angeblich unsere Pfründe rauben will. Statt Kooperation und Solidarität herrscht ein erbitterter Verteilungskampf. Und genau dieser Konflikt könnte laut Peele unsere demokratische Gesellschaft in Gefahr bringen.
„Wir“ als Revolutionsfilm
Schon die roten Strampler bringen die Doppelgänger mit kommunistischer Ikonographie in Verbindung. Die Bewohner der Unterwelt bilden ein solidarisches, wenn auch zombiehaft einheitliches Kollektiv, das die bekannte Gesellschaftsordnung zerstören will. Die Angst vor der Linken ist in der amerikanischen Kultur tief verwurzelt. Und so ist es kein Wunder, dass sie in „Wir“, wenn auch scherzhaft, als destruktive Kraft dargestellt wird.
Das Schlussbild der blutroten Menschenkette bekommt einen ironischen Beigeschmack, wenn man bedenkt, dass „Hands Across America“ 1986 als Spendenaktion gedacht war und ein Großteil des Geldes selbst verpulverte. Aber so sind wir nunmal. Wir halten unsere westlichen Werte in symbolischen Aktionen hoch, wirklich ändern wollen wir uns aber nicht.
Eine andere wichtige Instanz glänzt in „Wir“ mit bemerkenswerter Abwesenheit. Bis auf zwei Militärhubschrauber treten Regierungsvertreter höchstens im verbalen Kontext von Verschwörungstheorien auf. Die Menschheit ist in „Wir“ scheinbar nicht nur von Gott, sondern auch von den weltlichen Mächten verlassen. Das schürt die Angst vor der unsichtbaren Oberschicht umso mehr, die die Zügel über die Geschicke der Welt in den Händen halten soll.
Das Schatten-Ich schlägt zurück
Der Doppelgänger ist ein zentrales Motiv der Kunst, das oft im Kontext von Horrorszenarien auftritt. „Jekyll and Hide“, „Mulholland Drive“ und „Das Ding aus einer anderen Welt“ sind nur einige Filme, in denen unsere verdrängten Impulse in Form von bedrohlichen Doppelgängern sichtbar werden. Aus tiefenpsychologischer Sicht verkörpert das Schatten-Ich unsere primitiven, unmoralischen und unwillkommenen Persönlichkeitsanteile, die wir tief in unserem Unterbewusstsein verdrängen. Der Film hat da eine klare Aussage: Wenn wir weiter verdrängen und verleugnen, werden uns unsere Sünden früher oder später schmerzhaft einholen.
Und was bedeuten nun die Hasen und der Psalm Jeremiah 11:11?
Eine Erklärung für den Ursprung der Doppelgänger liefert der Film nicht. Das Gute an Jordan Peele ist jedoch, dass er keine einfache Erklärung geben will. Ihm geht es vielmehr um die Kraft der Bilder, die unsere unterbewussten Ängste zum Vorschein bringen sollen.
In diversen Interviews sprach Peele von der Dualität der Symbole. Da wären zum Beispiel die Hasen, die laut Peele auf den ersten Blick niedlich wirken und auf den zweiten unheimliche Augen haben. Ähnlich verhält es sich mit der Schere, die einerseits ein alltägliches Objekt ist und andererseits zur gefährlichen Waffe werden kann (Quelle).
Im Laufe des Films nimmt zudem der Psalm Jeremiah 11:11 eine prominente Stellung ein. Das erste Mal sehen wir diesen Verweis auf dem Schild eines mysteriösen Obdachlosen, der die beiden Welten verbindet. 11:11 spielt einerseits auf die Dualität und Doppelung an und fungiert andererseits als unheilbringendes Omen.
In dem Vers heißt es: „Darum siehe, spricht der HERR, ich will Unheil über sie kommen lassen, dem sie nicht entgehen sollen; und wenn sie zu mir schreien, will ich sie nicht hören.“
In dem alttestamentarischen Vers geht es darum, dass die Menschen die Gebote von Gott nicht beachten und als Strafe von ihm verlassen werden. Der Vers drückt demnach nicht nur den Verlust der Werte und die Orientierungslosigkeit der westlichen Gesellschaft aus, er deutet auch auf den drohenden Untergang aufgrund unserer eigenen Ignoranz hin. Wir alle hoffen, dass Peele am Ende nicht Recht behalten. Und dennoch zeigt „Wir“, auf welche bizarre Weise wir uns zu unserem eigenen Untergang hingezogen fühlen.