In Breslau lebten im Jahr 1925 fast 25.000 Juden. Im Jahr 1939 waren es noch etwas über 10.000. Von denen, die danach blieben, überlebten nur wenige den Holocaust. Der Rest von ihnen wurde, falls eine Flucht oder eine Ausreise nicht möglich war, vom Nazi-Regime in Lager gebracht und ausgelöscht. Denn das jüdische Leben in Breslau, einschließlich der Synagogen, die zerstört wurden, durfte nicht mehr existieren. Im Jahr 2015 fand in Breslau, nun Wroclaw, ein Workshop deutscher und polnischer Jugendlicher statt, die etwas über die jüdische Gemeinde, die eine der größten in Europa war, erfahren sollten. Hierzu wurden Zeitzeugen eingeladen, die aus Breslau stammen. Menschen, die aufgrund der Nazi-Verfolgung ihre Heimat und auch ihre Familien verlassen mussten, und nun jungen Menschen ihre Geschichte erzählen. Die Filmemacher Karin Kaper und Dirk Szuszies haben den Workshop und die Restauration der jüdischen Synagoge zum Anlass genommen, die Überlebenden und ihre Lebensläufe zu porträtieren. Der Film beginnt in Breslau selbst, lässt Erinnerungen mit einer enormen Fülle an historischem Bildmaterial lebendig werden, zeigt die Wurzeln der Vertriebenen. Dann der Horror, der Krieg, die Anfeindungen, die ständige Gefahr für das eigene Leben und das der Liebsten. Auch hier nutzt der Film die Kraft der Worte. Ganz ruhig erzählen die Überlebenden, die Filmemacher verzichten auf eigene Kommentare und verlassen sich auf das Charisma der Protagonisten und deren eindringliche Schilderungen. Der Film begleitet die Erzählenden wie etwa Anita Lasker-Wallfisch oder auch Fritz Stern - und zeigt mit der Fülle der Lebenslinien auch die Fülle des Lebens selbst. Und zollt damit den Schicksalen großen Respekt. Ganz am Ende verschmelzen im Film die Ebenen der Vergangenheit und Gegenwart, der Hoffnung und der Furcht. Dann montiert der Film den „Marsch der gegenseitigen Achtung“ und eine berührende Ansprache einer Workshop-Teilnehmerin parallel mit einem Aufmarsch einer polnischen Rechtsgruppierung. Der Film setzt hier ein klares, kluges und wichtiges inszenatorisches Ausrufezeichen: Wenn die Welt nicht aufpasst, dann wird etwas wieder geschehen, was nie mehr geschehen darf. WIR SIND JUDEN AUS BRESLAU vereint als Film auf beeindruckende Weise viele Facetten: Auf der einen Seite ein spannendes, packendes und lehrreiches Zeitdokument. Auf der anderen Seite die Erinnerung, Verbeugung und Ehrung der Überlebenden. Und nicht zuletzt auch ein kluges und wichtiges filmisches Mahnmal gegen das Vergessen.
Jurybegründung:
14 Menschen haben Karin Kaper und Dirk Szuszies für ihren Film WIR SIND JUDEN AUS BRESLAU vor der Kamera versammelt, unter ihnen auch bekannte Namen wie den im Sommer verstorbenen Literaturwissenschaftler und Historiker Fritz Stern und die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, eine der letzten Überlebenden des berüchtigten Mädchenorchesters im KZ Auschwitz. Was diese Menschen eint, ist nicht nur ihr hohes Alter, sondern auch die Tatsache, die dem Film seinen Titel gab. Allesamt sind sie Juden aus Breslau, der ehemals drittgrößten jüdischen Gemeinde des Deutschen Reiches und alle haben sie während der Zeit des Dritten Reiches unfassbares Leid erlebt, von dem sie nun als einige der letzten Zeitzeugen dieses finstersten Kapitels deutscher und europäischer Geschichte vor der Kamera erzählen. Einige von ihnen, die nun in alle Welt verstreut sind, nehmen sogar die Mühen auf sich, zu einem deutsch-polnischen Jugendtreffen in ihre frühere Heimat zu reisen, um dort höchstpersönlich mit den Teilnehmern zu sprechen und aus ihrem Leben zu berichten. Und gerade diese Szenen, die die Begegnungen von Jung und Alt zeigen, gehören zu jenen Momenten, die nicht nur die Teilnehmer dieser Gespräche, sondern auch die Zuschauer emotional stark bewegen.
Entstanden ist der Film im Rahmen des Programms von Wroc?aw (ehemals Breslau) zur Kulturhauptstadt Europas 2016, einen Titel, den die Stadt in diesem Jahr gemeinsam mit San Sebastian innehatte. Im Verlaufe des Films zeigt sich aber schnell, dass WIR SIND JUDEN AUS BRESLAU weitaus mehr ist als eine reine Projektdokumentation anlässlich des kulturellen Großereignisses: Hier treffen individuelle Lebenswege auf Stadt-, Welt- und Zeitgeschichte, auf gelungene Weise verknüpft der Film das Gestern mit der Gegenwart und wagt sogar einen Ausblick auf die Zukunft, indem die gemeinsame Identität und der europäische Gedanke betont werden - gerade in unruhigen Zeiten wie diesen ein wichtiges Statement für Weltoffenheit, Toleranz und einen verantwortungsvollen Umgang mit der Geschichte.
Insgesamt gelingt es Karin Kaper und Dirks Szuszies auf überzeugende Weise, die Vielzahl an Zeitzeugen und Themen und den Gang durch die Jahrzehnte zu einem sehenswerten und fesselnden Zeitdokument zusammenzufügen. Nur in einigen wenigen Szenen sind kleine Rauheiten spürbar, die aber insgesamt den guten und überzeugenden Eindruck kaum mindern können.
Nach Ansicht der Jury stellt WIR SIND JUDEN AUS BRESLAU eine wichtige Erinnerungsarbeit dar, die den Blick eröffnet auf individuelle Lebensläufe, in denen sich persönliches Erleben und die große Weltgeschichte widerspiegeln.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)