Wo in Paris die Sonne aufgeht: Französisches Drama von Jacques Audiard über Liebe und Sehnsüchte im 13. Arrondissement in Paris.
Jacques Audiard, für „
Dämonen und Wunder - Dheepan“ beim Festival de Cannes ausgezeichnet, kehrte 2021 in den Wettbewerb an der Croisette zurück mit dem bemerkenswertesten Film in einer Karriere voller bemerkenswerter Filme, der nur dort Premiere feiern konnte. Weil sich dieser ewige Poet zutiefst männlicher Geschichten, im Atler von 69 Jahren noch einmal komplett neu erfindet. Alles, was er, Frankreichs Antwort auf das muskulöse Kino eines Michael Mann, übers Kino weiß, will er noch einmal mit neuen Augen sehen, in neue Bahnen lenken, der Gewalt entsagen, die seinem Kino bisher wie selbstverständlich entsprungen ist.
Jacques Audiard hat einen Liebesfilm gemacht. Einen Liebesfilm, der so ist, wie Frankreich im Jahr 2021 ist. Einen Liebesfilm in Schwarzweiß, als hätte die Nouvelle Vague nicht in den späten Fünfzigern, sondern 60 Jahre später begonnen, aber immer ein bisschen mehr Lelouch als Godard, mehr Truffaut als Resnais. Ein moderner „
Ein Mann und eine Frau„, der die Goldene Palme 1966 gewinnen konnte, eine Standortbestimmung, wie Liebe im Paris von hier und jetzt aussieht und sich anfühlt, wo sich die Kategorien nationale Identität und sexuelle Präferenz zunehmend auflösen und keine Rolle mehr spielen, wie die Menschen miteinander umgehen, wen sie lieben und wie sie lieben. Das ist umso bemerkenswerter, weil sich Audiards Filme bisher in betont maskulinen Systemen bewegt haben: die Unterwelt, das Gefängnis, Fightclubs, die Gangs in den Banlieues. „Les olympiades“ legt nahe, dass diese Welten nach „
The Sisters Brothers„, der Ausflug in das urmännliche Genre des Westerns, für Audiard auserzählt sind.
Diesmal hat er mit einem Drehbuch gearbeitet, das in Zusammenarbeit mit zwei radikalen jungen Filmemacherinnen entstand: Céline Sciamma, die mit „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ vor zwei Jahren in Cannes den Drehbuchpreis gewann, aber gerne auch mit der Goldenen Palme hätte ausgezeichnet werden dürfen, und Léa Mysius, die als Spezialistin für lebensnahe Dialoge gilt, aber sich seit „Ava“ auch als Regisseurin zu etablieren beginnt. Audiard lässt sich voll auf seine beiden Mitstreiterinnen ein, es ist gleichberechtigt auch ihr Film. Er hat ihren Blick, ihre Figuren, ihre Anliegen in Bilder umgesetzt in einen modernen, brandaktuellen, lodernden Film, der die Ideen von Freundschaft, Sex und Liebe komplett neu vermisst. Aufregende Bilder, die einen gleich packen, wenn die Kamera erstmals durch den 13. Distrikt schweift, vorbei an gesichtslosen Hochhäusern. Aber hier wird es nicht um prekäre Verhältnisse gehen, um soziale Spannungen, um die klaffende Schere zwischen Haben und Nichthaben. Das ist nicht Thema. Aber es ist impliziert, in jedem Moment, in jeder Geste, jedem Blick der Figuren: Das ist die Welt, in der sie leben. Aber das sind gerade jetzt nicht ihre Probleme.
Da sind zunächst Emilie und Camille, gespielt von der umwerfenden Neuentdeckung Lucie Zhang und dem schon etwas erfahreneren Makita Samba. Emilie ist Chinesin, lebt aber mietfrei in einer Wohnung ihrer Großmutter wie ihre Schwester schon so lange in Frankreich, dass sie Französisch als Muttersprache ansieht. Camille ist ein junger, engagierter schwarzer Lehrer auf der Suche nach einem Zimmer in der Nähe seiner Schule. Ein Vorstellungsgespräch mündet in Sex, der so gut ist, dass das auch die nächsten Wochen so weitergeht, bis Emilie ihn warnt, Camille solle aufpassen, sich nicht in sie zu verlieben - und ihm damit zu verstehen gibt, dass es um sie längst geschehen ist. Ihre Wege trennen sich. Sie verliert ihren Job im Callcenter, er gönnt sich eine Pause in der Schule und greift einem Freund unter die Arme, dessen darbendes Immobilienunternehmen wieder auf die Beine zu bringen. Jetzt lernen wir Nora kennen, die aus der Provinz in die große Stadt gekommen ist, um mit 32 einen Neuanfang zu wagen und Jura zu studieren. Ihren Verwandten erzählt sie am Telefon so überschwänglich, wie toll alles ist, dass man ahnt, das nichts in ihrem Leben zum Guten steht. Noémie Merlant aus „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ ist die Idealbesetzung für diese Frau, die sich wie eine Fremde fühlt in ihrem Körper, aber doch gemocht, geliebt, verstanden, begehrt werden will: Es gibt einen Blickwinkel auf ihr Gesicht, da sieht sie verkrampft aus, eine blasse Jungfer. Und wenn sie ihr Gesicht dann nur ein paar Zentimeter dreht, ist sie die strahlendste, schönste Frau, die man denken kann. Das ist perfekt für die schüchterne, immer etwas gehemmt wirkende junge Frau, für die alles noch schlimmer wird, als sie sich für einen Rave spontan in einen Minirock wirft und eine billige blonde Perücke überzieht. Dort sind ihre Mitkommilitonen überzeugt, dass es sich bei ihr um die Pornodarstellerin Amber Sweet handelt, die sich ein paar der Jungs in privaten Bezahlsessions im Internet auf immer in ihre Erinnerung eingebrannt hat. Das folgende Cybermobbing ist für die unbedarfte Nora ein Schock. Und bringt sie dazu, nicht nur das Studium zu schmeißen und sich um eine Anstellung in Camilles Immobilienbüro zu bemühen, sondern auch Kontakt zu besagter Amber Sweet aufzunehmen. Was folgt, ist ein Reigen, ein Wogen der Gefühle, ein Auf und Ab, ein Austesten sexueller Möglichkeiten in einer Welt, in der Dating-Apps und andere digitale Stützen alle Freiheiten offerieren. In einer großartigen Szene nach der anderen sehen sich die Figuren erst ganz sanft, dann immer nachdrücklicher damit konfrontiert, sich erst einmal mit sich selbst, ihren Makeln und Fehlern auseinanderzusetzen, um sich für einen Weg zu entscheiden. Ein Weg, der in diesem so großzügigen, überschwänglichen, expliziten und liebevollen Film völlig offen ist. Und in einem Kuss mündet, der seinen Platz in der Geschichte des Kinos schon einmal sicher hat.
Thomas Schultze.