Die TV-Serie „Chernobyl“ von Craig Mazin betrachtet einen Vorfall, der sich tief ins kollektive Bewusstsein der europäischen Bevölkerung gegraben hat. Das Gezeigte ist derart grauenhaft, dass man animiert ist, sich erneut in die Geschehnisse im April 1986 im Reaktor nahe Pripyat einzulesen und nachzuvollziehen, was an den Schilderungen der Wahrheit entspricht und an welcher Stelle die Realität dramaturgisch gebeugt wurde. Wir beschäftigen uns mit diesem Vergleich, versuchen aber auch Fragen zu beantworten und Hintergründe zu erklären, die uns beim Schauen interessiert haben.
Der Autor Craig Mazin: Woher kommt seine Obsession für den GAU 1986?
Der 48-jährige Drehbuchautor aus Brooklyn hat etwas erschaffen, dass viele Menschen berührt und fasziniert. Seine Serie „Chernobyl“ ist aufgrund der Bewertungen bei IMDb gerade die beste Serie aller Zeiten und hat damit ein anderes berühmtes HBO-Produkt getoppt: „Game of Thrones“. In einem Interview mit Vice erklärt er, warum er sich so intensiv mit der Reaktorkatastrophe beschäftigt hat. Zur Zeit des GAUs war er 15 Jahre alt und das Ereignis hat ihn seitdem immer irgendwie beschäftigt. 2015 begriff er, dass er eigentlich gar nicht genau wusste, was genau passiert war, also begann er, darüber zu lesen. Zunächst ging es ihm einfach darum, auf wissenschaftlicher Ebene zu verstehen, was genau zu dem Unglück geführt hatte, aber mit zunehmender Recherche traf er auf Informationen, die ihn zutiefst schockiert haben. Es folgte eine über zweijährige Forschungsarbeit bis er bereit war, mit dem Schreiben anzufangen. Das Buch „Voices From Chernobyl“ von Svetlana Alexievich wurde dabei zu einer besonders inspirierenden Grundlage, denn in diesem Werk geht es vor allem um die Menschen, von deren Geschichten sonst keiner Notiz genommen hätte, die nicht zu den großen Figuren und Entscheidern des Weltgeschehens gehörten. Die Geschehnisse in der Serie nicht durch Fiktion oder Überdramatisierung zu entstellen, war ihm wichtig, denn Tschernobyl ist eine Geschichte der Lügen und die Politik der Sowjetunion war von Unwahrheiten geprägt. Dramaturgische Verdichtungen und gewisse Änderungen lassen sich in einer fünfstündigen Mini-Serie aber nicht verhindern und deshalb hat er einen begleitenden Podcast eingerichtet, in der er genau diese Änderungen der Realität und seine Gründe dafür bespricht und analysiert. Auch der Podcast hat mit 4,8 von 5 hervorragende Bewertungen erhalten. Eine interessante Besprechung, die auf die Exaktheit des Dargestellten aus wissenschaftlicher Perspektive abzielt, findet ihr in der New York Times von Henry Fountain. Sein Resümee: Es ist vieles ausgedacht, aber das macht nicht wirklich etwas aus, denn „die Wahrheit ist real“.
„Chernobyl“: Cast und reale Personen in der Gegenüberstellung
Bevor wir uns den einzelnen Personen, die in der Serie eine Rolle spielen, widmen, hier eine Gegenüberstellung von Cast und echten Personen. Die Wissenschaftlerin Ulana Khomyuk werdet ihr nicht entdecken, sie ist als eine der wenigen Protagonisten frei erfunden und soll mehrere engagierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen repräsentieren, doch dazu später mehr.
Waleri Alexejewitsch Legassow hat wirklich ein Tonband erstellt
Legassow ist eine der beiden zentralen Figuren in der Serie. Er war Doktor der Chemie und leitete die Abteilung für Chemietechnik an der Lomonossow-Universität in Moskau. Ab 1981 war er Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Nach der Katastrophe wurde er zu einer wichtigen Person in der Regierungskommission, die die Gründe untersuchte und einen Plan zur Schadensbegrenzung ausarbeitete. Seine Entscheidungen verhinderten weitere Explosionen und außerdem informierte er die Regierung fortlaufend über die Situation im Katastrophengebiet, wie es auch in der Serie gezeigt wird. Am 27. April 1988 fand man ihn erhängt in seinem Haus in der Nähe von Moskau. Am nächsten Tag hätte er dem Politbüro die Untersuchungsergebnisse zu Tschernobyl vortragen sollen. Vor seinem Freitod hatte er ein politisches Testament auf Tonband gebannt, worin er Details zum GAU und weitere Verantwortliche benannte. Dieses Dokument liegt teilweise noch vor, wichtige Teile wurden aber nach seinem Tod vorsätzlich gelöscht. Inzwischen kursieren auch gefälschte Versionen im Netz, hier findet ihr die Abschrift des Originals. Nicht dort enthalten sind die Sätze, die er zu Beginn der Serie spricht. In der Serie wird er von Jared Harris verkörpert.
Legassow: Posthum Held der Russischen Föderation
Die Auszeichnung wurde ihm von Boris Jelzin posthum verliehen, zu Lebzeiten hatte ihn Parteichef Gorbatschow zweimal von der Liste der zu Ehrenden gestrichen. Die Dokumentation „Tschernobyl: 30 Jahre danach – Die Aufzeichnungen von Waleri Legassow“ zeigt euch mehr über die Hintergründe dieses Mannes, der schon Jahre vor dem Gau, wie andere Wissenschaftler auch, zu bedenken gegeben hatte, dass der Reaktortyp in wichtigen Parametern nicht den Sicherheitsanforderungen entsprach. Das Protokoll einer Sitzung der KP-Spitzen am 3. Juli legt Zeugnis ab, dass die Fachleute nie wirklich an die Sicherheit der Tschernobyl-Reaktoren geglaubt haben. Bei dieser Bauweise wird Graphit statt Wasser verwendet, um die schnellen Neutronen aus der Kernspaltung abzubremsen. Diese Konstruktion führte dazu, dass es zum rasenden Temperatur- und Druckanstieg kam, der dann die Explosion und den Brand des Graphits zur Folge hatte. Legassows Charakter ist in der Serie generell sehr wahrheitsgetreu mit kleineren Abweichungen dargestellt. Er wurde beim GAU nicht mitten in der Nacht geweckt, sondern erfuhr von der Katastrophe beim ersten Treffen mit dem Zentralkomitee, zu dem er als Experte eingeladen war. Außerdem hatte er Familie, die in der Serie gar nicht erscheint beziehungsweise in der vierten Folge in einem Nebensatz erwähnt wird, seine Tochter hat sich mehrfach auch zur Geschichte ihres Vaters geäußert. Und natürlich war er kein Superheld, der im Alleingang die Menschen retten und die Apokalypse abwenden wollte, sondern ein Wissenschaftler (nicht für Nuklearenergie, wie die Serie behauptet, sondern Chemie), der in der Befehlskette genau den Platz einnahm, der ihm zugedacht war.
RBMK-Reaktoren: Gibt es noch welche in Betrieb?
Die spezielle Bauweise des Tschernobyl-Reaktors wird in der Serie mehrfach thematisiert, daher hier kurz einige Fakten dazu. Die Abkürzung RBMK steht für Reaktor Bolschoi Moschtschnosti Kanalny, was auf Deutsch etwa Hochleistungs-Reaktor mit Kanälen heißt. Dieser Reaktortyp wurde in Russland entwickelt und sollte eigentlich 26 Mal gebaut werden. 15 wurden in Betrieb genommen, davon sind noch zehn in Betrieb (Stand: Dezember 2018). Nach dem Unfall mit dem RBMK-1000 im Reaktor Nummer 4 wurde die Bauweise weltbekannt. Wie die Serie zeigt, hat der Unfall unmittelbar mit den Eigenarten des Reaktor-Typs zu tun, daher wurden entsprechende Verbesserungen an den anderen unternommen. Der letzte dieser Reaktoren soll 2030 stillgelegt werden. Ein ungelöstes Problem bisher ist der Rückbau und die Endlagerung des radioaktiven Graphitkerns.
Anatoly Stepanowitsch Dyatlov: Eine verhängnisvolle Fehlentscheidung
Zur Zeit des Reaktorunfalls war Dyatlov stellvertretender Chefingenieur des Kraftwerks Tschernobyl. Er war auch der Leiter des Versuchs, der zu der nuklearen Katastrophe führte. Es war vermutlich nicht sein erster Atomunfall. bereits Anfang der 1970er Jahre arbeitete er in einer Werft und baute Atomreaktoren in U-Boote ein. Dabei kam es zu einem Unfall, bei dem er einer hohen Strahlung ausgesetzt wurde. Hinweise, dass er die Verantwortung für den Unfall zu tragen hat, konnten nicht belegt werden. Sein Sohn starb kurz darauf an Leukämie. Am verhängnisvollen 26. April 1986 wehrte sich Schichtleiter Akimow aufgrund der explosiven Unregelmäßigkeiten des Reaktors gegen die Durchführung des angeordneten Tests der Notstromversorgung, aber Dyatlov drohte ihm mit Kündigung, wenn er nicht Folge leisten würde. 1987 bekannte er sich für „kriminelles Leiten eines potenziell explosionsgefährlichen Versuchs“ schuldig. Er bekam zehn Jahre Haft, wurde aber nach fünf Jahren vorzeitig entlassen. Er starb im Dezember 1995 an einem Herzinfarkt im Alter von 64 Jahren. Der Schichtführer Alexander Akimow war derjenige, der am Schicksalstag um 1:23 Uhr den Schalter AZ-5 betätigte, was die Zerstörung des Reaktors verursachte. Er verstarb zwei Wochen nach dem GAU im Alter von 33 Jahren an der Strahlenkrankheit. In der Serie wird Djatlov von Paul Ritter und Akimow von Sam Troughton dargestellt. Djatlov hat mehrere Interviews gegeben, in denen er die Schuld von sich gewiesen hat und die Hauptursache in der Konstruktion des Reaktortyps sah. In seinen Augen hatte man ihn und die anderen Mitarbeiter als Schuldige definiert, weil man sonst riskiert hätte, dass andere Länder auf die Abschaltung der restlichen Reaktoren gedrängt hätten, was die profitable Nuklearindustrie gefährdet hätte. Hätte er gewusst, was für ein Monster dieses Kraftwerk war, hätte er niemals dort angefangen zu arbeiten. Ein sehr interessantes Interview von 1992 könnt ihr bei der Washington Post nachlesen (Free-Trial anklicken, dann erscheint der Artikel), es gibt interessante Einblicke in Djatlovs Perspektive auf das Unglück.
Ulana Khomyuk ist ein dramaturgischer Kniff
Die Wissenschaftlerin Khomyuk (Emily Watson) hat es nicht gegeben. Laut Autor Mazin sollte sie stellvertretend für mehrere Wissenschaftler und besonders Wissenschaftlerinnen stehen. Mazin wollte damit deutlich machen, dass die Sowjetunion bereits zu dieser Zeit Frauen in Wissenschaft und Medizin stark unterstützt hat. Somit war ihr Anteil in diesen Bereichen höher als zur selben Zeit im Westen. Zwischen 1962 und 1964 waren 40 Prozent der promovierten Chemiker weiblich. In diesem Sinne ist die Figur Khomyuk zwar fiktiv, aber dient dazu die Situation des Landes realistischer abzubilden. Wichtig ist, dass sie für viele Wissenschaftler steht, die sich der Aufklärung des Unglücks gewidmet haben.
Boris Shcherbina: Der Krisenmanager der Partei
Der Apparatschik Shcherbina war Vize-Vorsitzender des Ministerrats von 1984 bis 1989. In dieser Zeit übernahm er das Management von zwei Katastrophen: Tschernobyl und das Erdbeben in Armenien 1988. In der Serie hat der Schauspieler Stellan Skarsgård seine Rolle übernommen. Wie er in Interviews zur Serie selber sagte, hat er sich mit der realen Person nicht viel beschäftigt, sondern sich mehr auf dessen dramatische Personifizierung konzentriert. Es sei nicht wichtig gewesen, den Sowjet-Politiker als Mensch so realitätsnah wie möglich darzustellen, es gibt auch wenig optische Ähnlichkeit. Skarsgård hat sich auf die Person aus dem Skript konzentriert, da es auch schwierig ist, Details über den echten Politiker zu erfahren. Vorwiegend muss dieser Charakter bestimmte Teile zu der Geschichte beitragen, ob es der Realität entspricht oder nicht. Der echte Shcherbina befand sich auf einer Geschäftsreise in Sibirien als er den Anruf zur Katastrophe um fünf Uhr früh erhielt. Wie in der Serie dargestellt, wurde das Parteibüro zunächst falsch über die Konsequenzen informiert. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Mikhail Gorbatschow, erklärte später, dass zunächst nur bekannt war, dass es eine Explosion und ein Feuer in Tschernobyl gäbe, aber der Reaktor intakt sei. Es herrschte also kein Verständnis dafür, dass eine unglaublich hohe Strahlenemission die Mitarbeiter des Kraftwerks und die Bewohner der Umgebung in ungeahntem Ausmaß gefährdet. Damit wurde wertvolle Zeit verloren und Shcherbina erreichte Pripyat erst 18 Stunden nach der Explosion. Zu diesem Zeitpunkt waren nahezu noch keine Maßnahmen zur Eindämmung der Konsequenzen eingeleitet worden. Shcherbina veranstaltete eine Brainstorming-Runde und suchte nach Lösungen, währenddessen kam es zu neuen Explosionen und das Worst-Case-Szenario drohte. Da man ihm sagte, der Reaktor sei nicht mit Wasser, aber mit Sand zu löschen, orderte er militärische Hubschrauber, die den Sand über dem Reaktor abwerfen sollten. Letztendlich spielte es sich ab wie in der Serie gezeigt, jedoch ist der gemeinsame Helikopterflug von Shcherbina und Legassow so nicht passiert. Zwar stürzte tatsächlich ein Hubschrauber beim Reaktorüberflug ab, allerdings war es nicht wie in der Serie der erste, sondern der Vorfall ereignete sich fast 14 Tage später. Boris Shcherbina verstarb vier Jahre nach dem Unfall 1990 im Alter von 70 Jahren, die Todesursache blieb unter Verschluss.
Die Evakuierung der Bevölkerung
Boris Shcherbina war es auch, der letztendlich dann doch, 36 Stunden nach der ersten Explosion, die Evakuierung der Bevölkerung im Umkreis des Kernkraftwerks anordnete. Zwar war es nicht so spät, wie in der Serie gezeigt, wo in Pripyat noch die Kinder draußen spielen und in den Medien schon die Schutzmaßnahmen des Auslands dokumentiert werden, aber unnötig verzögert. Tatsächlich wurde die Bevölkerung im Unklaren gelassen und die Nachricht über den Unfall und die mögliche Verstrahlung verbreitete sich nur als Gerücht. Manche verließen Pripyat, die meisten blieben da und trockneten ihre Wäsche im atomaren Regen. Während das Militär schon mit Gasmasken die Stadt sicher machte, bekamen die Kinder Jod-Tabletten und spielten auf der Straße. So lange wie sich die Verantwortlichen Zeit ließen, die Evakuierung anzuordnen, so schnell mussten die Bewohner dann ihre Wohnungen und Häuser verlassen. Zwischen zwei Stunden und 50 Minuten blieben den Bürgern von Pripyat ihre Habseligkeiten zu packen und in die vorbereiteten Busse zu steigen. Ihre Haustiere mussten sie zurücklassen, darum kümmerte sich später das Militär. Auf dem Bild seht ihr direkte Strahlenopfer, derer in Donezk in der Ukraine öffentlich gedacht wird.
Der Feuerwehrmann Vasily Ignatenko und seine Frau Lyudmila
Der Erzählstrang in „Chernobyl“, der sich mit Ignatenko und seiner Frau Lyudmila auseinandersetzt, ist leider ganz nah an der unfassbar brutalen Realität. Alle 28 Feuerwehrleute, die in der Nacht der Reaktorexplosion zu Hilfe gerufen wurden, sind an den Folgen der Verstrahlung innerhalb der folgenden zwei bis drei Wochen unter grausamen Qualen gestorben. Niemand hatte sie vor oder während des Einsatzes über die Risiken aufgeklärt. Entsprechend hatten sie wirklich direkten Kontakt mit dem radioaktiven Graphit und trugen keine Schutzkleidung. Ihr Einsatz war aber ein wesentlicher Faktor, der Schlimmeres verhindert hat. Seine Frau Lyudmila war zu diesem Zeitpunkt schwanger, eigentlich wären sie in dieser Nacht um vier Uhr morgens verreist. Sie hat ihren Mann im Krankenhaus in Moskau betreut und – wie in der Serie dargestellt – sich nicht von den Schwestern und der Gefahr aus seiner Nähe verbannen lassen. Als ihr Mann starb, war er erst 25 Jahre alt. Wie seine Kollegen war er stark verstrahlt und wurde mit Zink und Beton bestattet, um die Bevölkerung nicht weiter zu belasten. In dem Buch „Voices from Chernobyl“ von Sventlana Alexievich kommt seine Frau Lyudmila ausführlich zu Wort und ihr werdet dort 1:1 die Dialoge mit dem Klinikpersonal finden, die ihr in der Serie schon gehört habt. Nur zwei Monate nach dem Tod ihres Mannes brachte Lyudmila die gemeinsame Tochter auf die Welt, die vier Stunden nach der Geburt verstarb. Ihr Herz und ihre Leber waren nicht lebensfähig, Lyudmila war zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre. Auch die behandelnden Ärzte und Schwestern sind übrigens zum großen Teil an den Folgen ihres Umgangs mit den Strahlungsopfern nach nicht allzu langer Zeit gestorben. In der Serie spielen Adam Nagaitis und Jessie Buckley das Ehepaar Ignatenko.
Die Bioroboter: Retter ohne Furcht und Tadel
Nachdem die geliehenen deutschen Roboter MF-2 und MF-3, die das Graphit vom Dach des Reaktors wegräumen sollten, nach kurzer Zeit in der Strahlung den Geist aufgab, verwendet Legassov den Terminus „Bioroboter“ und meint damit Menschen. Diese sogenannten Liquidatoren gab es wirklich, es waren genau 3828 Männer mittleren Alters, die wie in der Serie gezeigt, nur einen kurzen Zeitraum hatten (in Wirklichkeit nicht 90, sondern 40 Sekunden), um auf das Dach zu sprinten und die Steine herunterzuwerfen. Das war nötig, damit der Sarkophag auch alles radioaktive Material abdecken konnte. Die Schutzkleidung dieser Arbeiter konnte jeweils nur einmal getragen werden, da sie im Anschluss hochgradig kontaminiert war. Sie bekamen eine Urkunde und 100 Rubel und verstreuten sich wieder in alle Winde. Dies war auch Kalkül, denn so konnten sich ihre Schicksale im statistischen Niemandsland verlieren. 2011 entstand in der Ukraine eine Dokumentation über diese stillen Helden mit dem Titel „Chernobyl.3828“. Insgesamt wurden zwischen 400.000 und 900.000 zumeist Wehrpflichtige aus dem ganzen Land als Liquidatoren zusammengetrommelt. Mehr dazu lässt bei Igor Kostin nachlesen, der als Tschernobyl-Fotograf zu großer Bekanntheit kam und die Vorgänge naturgemäß gut beobachten konnte. Die IPPNW meldete Anfang 2016 im Hinblick auf verschiedene Studien, dass bis 2005 allein bis zu 125.000 Liquidatoren gestorben sind. Zahlen sind aber bei Tschernobyl ein ganz besonderes Problem, weil sie – je nachdem, wer sie veröffentlicht – interessengeleitet nach oben oder unten korrigiert werden. Alexej Jablokow, ehemaliger Berater Jelzins, berichtete von einer gestiegenen Sterblichkeitsrate in verstrahlten und weiter bewohnten Gebieten, nach seiner Meinung wären langfristig (bei Berücksichtigung aller Fallout-Gebiete) 1,44 Millionen Tote auf das Konto des Reaktorunfalls zu rechnen. Die Behandlung der Liquidatoren nach der Katastrophe ist äußerst fragwürdig. Ein Beispiel: Volodymyr Gudov wurde 1986 als Zivilist eingezogen und hat später ein Buch über die Tragödie der Spezialeinheit 731 geschrieben. Als es erschien, wurde seine Rente von umgerechnet 250 auf 150 Euro gekürzt. Unfassbar, oder?
Pripyat sehen und sterben? Urlaub in der Sperrzone
Wenn es euch interessiert, die originalen Schauplätze des Elends mit eigenen Augen zu sehen (es gibt dort inzwischen sogar ein Hostel), empfehlen wir euch „Chernobylwelcome“ auf Facebook zu besichtigen. Ihr bekommt dort viele Hintergrund-Infos - auch zur Serie - und aktuelles Bildmaterial aus dem Katastrophengebiet. Wem ein Aufenthalt in diesem Gebiet zu risikoreich erscheint, kann alternativ zu den Drehorten der Serie fahren, zum stillgelegten Schwesterkraftwerk nach Ignalina in Litauen.
Aus russischer Perspektive geschaut und bewertet
Es ist ein weiteres Gütesiegel für das Produkt, dass es auch von Menschen respektiert und sehr gemocht wird, die ihre Kindheit in der Sowjetunion verbracht haben und noch lebendige Erinnerungen an die Ereignisse im April 1986 mit sich tragen. Wir empfehlen Slava Malamud auf Twitter zu folgen, denn seine Meinungen und Eindrücke sind eine Bereicherung aus einer anderen Perspektive. In Russland wird die Serie bei Amedia gezeigt und ist ein Straßenfeger.
Nicht alle Russen sind begeistert: Kreml setzt auf eigenen Film mit Verschwörungstheorie
Man ist nicht sicher, ob man lachen oder weinen soll, aber der Kreml setzt der US-amerikanischen Serie über die Katastrophe eine eigene Drama-Serie entgegen. Und das geht so: Das russische Kulturministerium unter Putin fördert eine Produktion des Senders NTW, das sich auch mit dem Unglück im ukrainischen Reaktor 1986 auseinandersetzt. Dabei geht es darum, dass angeblich CIA-Agenten für den Super-GAU die Verantwortung zu tragen hätten. Im Film stehen die KGB-Agenten im Mittelpunkt, die auf der Spur der US-Spion-Saboteure sind. Die Dreharbeiten in Belarus sollen bald beendet sein. Der Regisseur ist Aleksey Muradov.
Verpasst nicht den Podcast zur Serie
Wie eingangs erwähnt, ist der Podcast von Serienerfinder Craig Mazin eine wertvolle Ergänzung zur Serie, die wir euch hier erneut ans Herz legen wollen.
Kommt eine Fortsetzung von „Chernobyl“?
Nein. Weitere Informationen zu den Gründen findet ihr in einem eigenen Artikel zu „Chernobyl“ Staffel 2.
Trailer: „Chernobyl“
Ihr seht die Serie bei Sky Atlantic jeden Dienstag ab 20:15 Uhr. Die finale fünfte Folge gibt es am 11. Juni 2019. Die Serie ist nicht auf Netflix zu sehen, aber mit einem monatlich kündbaren Sky Entertainment Ticket könnt ihr legal und günstig einschalten. Regulär kostet das Ticket einen knappen Zehner, aber Sky macht euch regelmäßig das Angebot zum Einstieg nur 4,99 Euro zu zahlen. Nach der Ausstrahlung ist „Chernobyl“ noch im Stream zu sehen und zwar nicht nur bis zum 11. Juli 2019, wie fälschlich (auch via Sky) kommuniziert wurde, sondern auf unbestimmte Zeit. Wem jetzt noch wichtige Punkte fehlen, geht es wie uns. Wir erweitern diesen Artikel sobald wieder Zeit dafür ist, spätestens nach der letzten Folge. Die Taucher, die Bergleute, die Anzahl der Toten und die sogenannten „Bioroboter“ sind mindestens noch Themen, die wir hier betrachten wollen.