Das Staffelfinale der „Herr der Ringe“-Serie liefert Antworten auf die zwei drängendsten Fragen – und eine davon offenbart ein Problem der ersten acht Folgen.
– Dieser Artikel spiegelt die Meinung des Autoren wider und nicht zwangsweise die aller kino.de-Redakteur*innen. Es folgen Spoiler! –
Gefühlt gerade erst gestartet und von reichlich Diskussionen begleitet, ist die erste Staffel von „Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht“ schon vorbei. Das war aber natürlich nur der Auftakt von Amazons Mega-Projekt, Staffel 2 von „Die Ringe der Macht“ ist bereits auf dem Weg. Doch bevor sich das Publikum vollends dieser zuwendet, will natürlich das Gesehene ausgiebig unter die Lupe genommen werden.
Für besonderen Gesprächsstoff dürften die Antworten auf die zwei großen Fragen sorgen, die die Zuschauer*innen vor allem beschäftigt haben: Wer ist der Fremde (Daniel Weyman) und wer ist Sauron? Einige vermuteten, dass beide Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden könnten und Folge 8 weckte zunächst sogar diesen Eindruck. Letztlich erwies sich das aber als falsche Enthüllung: Der Fremde ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit doch Gandalf, wie einige bereits vorab vermuteten.
Und Sauron? Nun, der hat sich die Staffel über als Halbrand (Charlie Vickers) getarnt… wie so ziemlich alle vermutet haben – was meiner Meinung nach ein Problem offenbart.
Sauron-Enthüllung ist nichts Halbes und nichts Ganzes
Wenn es darum geht, solche Mysterien wie das um Sauron zu beantworten, haben die Verantwortlichen meist zwei Alternativen: Suspense (also Spannung) oder Surprise (also Überraschung). Regie-Legende Alfred Hitchcock machte die Unterschiede zwischen den beiden Methoden mit dem folgenden berühmten Beispiel deutlich. Man stelle sich vor, mehrere Menschen speisen an einem Tisch. Plötzlich geht eine Bombe hoch, die darunter versteckt war. Dies war die Überraschung, mit der man das Publikum kurz aus seinen Sitzen reißen kann.
Alternativ könnte man aber eben auch schon lange vor der Explosion die Bombe zeigen, die langsam aber sicher runtertickt, was jedoch nur die Zuschauer*innen wissen. Die fiebern entsprechend die ganze Zeit über mit der Dinnerrunde mit, aus Angst, dass der große Knall folgt und alle sterben, aber niemand etwas aus Unwissenheit dagegen tun kann. Das ist dann die Spannung. Hitchcock favorisierte letztere Wahl, wobei natürlich beide Methoden ihre Vor- und Nachteile haben. Ich persönlich neige jedoch in der Regel dazu, Hitchcock zuzustimmen (wer wäre ich auch, ihm in Filmfragen zu widersprechen), da es fast immer für ein deutlich emotionaleres Erlebnis sorgt.
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Das Problem bei Halbrand ist meiner Ansicht nach, dass die Serienschaffenden für etliche Zuschauer*innen die denkbar schlechteste Kombination aus beiden Ansätzen gewählt haben. Denn unzählige Fans vermuteten direkt mit seinem ersten Auftritt, dass Halbrand Sauron ist und diese Theorie erhielt in den anschließenden Folgen derart viel Bekräftigung, dass Halbrand vor dem Finale die offensichtlichste und damit für mich auch schlechteste Wahl war. Die vermeintliche Enthüllung war für viele keine mehr, die Sequenz mit Galadriel (Morfydd Clark) war lediglich eine Bestätigung dessen, was etliche haben kommen sehen, weswegen sie statt Überraschung eher ein „war ja klar“ hervorlocken dürfte, was keinesfalls gewollt sein kann.
Die Verantwortlichen haben aber eben auch nicht schon vorher eindeutig genug offengelegt, dass Halbrand tatsächlich Sauron ist, weswegen zugleich der Suspense-Faktor in den vorherigen Folgen nie zur vollen Entfaltung kommen konnte. Man konnte nicht komplett mitfiebern, als Galadriel sich mit Halbrand in Folge 7 nach Lindon aufmachte, weil der Serie mit diesem Mystery-Ansatz auch zuzutrauen war, dass sie als Überraschung eine völlig neue Figur aus dem Hut zaubert, die die beiden dort zusammen mit Celebrimbor (Charles Edward) erwartet und die Ringe der Macht mit ihm schmiedet. Hätte man Halbrands wahre Identität schon früher offenbart, wären wir als Zuschauer*innen bei seinem perfiden Plan, die freien Völker Mittelerdes zu unterwandern, über Wochen deutlich mehr emotional involviert gewesen.
Was uns in der zweiten Staffel der Serie erwarten dürfte, verraten wir euch im Video:
„Ringe der Macht“-Verantwortliche wollten offenbar zu viel
Im Gespräch mit The Hollywood Reporter äußerten sich die beiden Showrunner J.D. Payne und Patrick McKay mit Erklärungen, die für mich ehrlich geschrieben nur schwer nachvollziehen sind. „Ich hoffe, dass nachdem die letzte Folge veröffentlicht wurde, Zuschauer*innen die ganze Staffel erneut sehen, was diesmal eine völlig andere Erfahrung sein wird“, sagt McKay dort. Das mag für diejenigen stimmen, die nicht wussten, dass Sauron andere Gestalten annehmen kann und die ganzen Hinweise ignoriert haben (beides dürfte durch das Internet die Runde gemacht haben). Die erwartete dann eine Überraschung im Finale, was eine erneute Sichtung tatsächlich belohnen dürfte. Doch ironischerweise sagte sein Kollege Payne im selben Interview: „Eine Überraschung belohnt dich nur bei einer Sichtung.“
Payne erklärte zuvor, dass sie auf eine emotionale Reaktion mit dem Finale abzielten, weil sie vorab diese Brotkrumen über Halbrands wahre Identität ausgestreut haben und ein schleichender Verdacht aufkommen sollte. Nur haben diejenigen, die über Saurons Fähigkeiten und Hintergründe Bescheid wissen, all diese Hinweise ja erkannt und richtig gedeutet, wodurch die emotionale Reaktion bei der Bestätigung wohl nicht wie gewünscht ausfallen durfte (siehe: „war ja klar“). Eine erneute Sichtung ist für sie also auch keine neue Erfahrung, da sie Halbrands Handlungen ja stets zumindest theoretisch als die von Sauron interpretierten. Es wirkt, als wollten die Verantwortlichen Suspense und Surprise haben, aber statt beides kunstvoll miteinander zu verweben, ergibt sich für mich eine halbgare Zwischenlösung, die keinem der beiden Ansprüche gerecht wird.
Eine erneute Sichtung dürfte außerdem merkwürdig sein, wenn man sich eine Szene mit Halbrand in Númenor ins Gedächtnis ruft. Dort wurde es als großer Moment der Unsicherheit verkauft, als er am Ende von Folge 5 vor dem Aufbruch nach Mittelerde gebannt auf den Beutel mit dem Siegel starrt und scheinbar hadert. Diese Sequenz wurde sogar so aufgelöst, dass Halbrand/Sauron den Beutel auf den Tisch legt, scheinbar geht und ihn letztlich doch greift, womit er vermeintlich sein Schicksal als König der Südlande akzeptiert hat. Für wen hat Sauron hier so dramatisch gezögert? Für die unbekannte Wache, die ihn als einzige Person beobachtet hat? Nur für uns als Publikum? Wir können nur hoffen, dass Staffel 2 enthüllt, dass der Dunkle Herrscher erst einen anderen Plan hatte und beispielsweise in Númenor länger verweilen wollte, um das Königreich von innen heraus zu zerstören. Ansonsten ergibt dieser Moment rückblickend für mich keinen Sinn.