„Sandman“ erobert aktuell die Netflix-Charts und das völlig zu recht. In einem großen Punkt lässt die Serienadaption allerdings leider zu wünschen übrig…
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Den absehbaren Start von „Sandman“ nahm ich im vergangenen Jahr zum Anlass, um mich endlich mal in die allseits hochgelobte Graphic Novel von Neil Gaiman zu stürzen. Nach ein wenig Recherche, welche der vielen Versionen ich mir zulegen sollte, entschied ich mich für „The Sandman Omnibus Vol. 1“. Ein direkt kostspieliges Unterfangen, es bot aber das beste Preis-Leistungsverhältnis, immerhin durfte ich mich dadurch über gleich mehr als 1.000 Seiten der Geschichte von Dream, dem Herrn der Träume, freuen.
Und ich habe diese Entscheidung nicht bereut, denn Neil Gaiman hat für „The Sandman“ meiner Meinung nach völlig zu Recht derart viel Lob eingestrichen. Der Bestsellerautor, auch bekannt durch „American Gods“, schuf hier eine wahrlich fantastische Welt, die vor kreativen Einfällen praktisch aus allen Nähten zu platzen droht und Mythologie, Kultur sowie Geschichte geschickt miteinander verwebt, um uns auf eine düstere, tiefgründige und stets spannende Reise zu entführen.
Entsprechend skeptisch blickte ich natürlich auf die Netflix-Adaption, denn umfangreiche Fantasy-Stoffe in Serienform umzusetzen, ist bekanntlich kein leichtes Unterfangen. Umso positiver überrascht war ich davon, was mich am vergangenen Wochenende erwartete: „Sandman“ hat es doch tatsächlich geschafft, das Gefühl der Graphic Novel (größtenteils) einzufangen und in einer opulenten Fantasy-Serie widerzugeben.
„The Sandman“ durfte sich durchaus den Ruf gefallen zu lassen, als unverfilmbar zu gelten, doch die Netflix-Serie wird der Vorlage in erstaunlich vielen Belangen gerecht. Die Serie entfesselt eine an vielen Stellen ebenfalls unheilvolle Atmosphäre und lädt dazu ein, herauszufinden, welch abgedrehte Idee hinter der nächsten Ecke lauert. In diesem Jahr lauern übrigens einige weitere Netflix-Highlights darauf, von euch entdeckt zu werden:
Selbst die Änderungen bei „Sandman“ stören kaum
Natürlich muss es bei einer Adaption eines solch opulenten Werkes zu Änderungen kommen, doch im Gegensatz zu beispielsweise „The Witcher“ stören sie mich mit wenigen Ausnahmen tatsächlich nicht. Vielmehr verstehe ich, warum beispielsweise ein John Dee – herausragend verkörpert von David Thewlis – hier deutlich empathischer als sein Comic-Pendant daherkommt: Zuschauer*innen hätten sich trotz der so schon bereits sadistischen und psychisch belastenden Diner-Folge entsetzt abwenden können, wenn die Verantwortlichen direkt der Vorlage gefolgt wären. Das Kunststück ist in diesem Beispiel aber eben, dass sie John Dee nicht einfach nur entschärft haben, sondern seine empathischere Darstellung konsequent nutzten, um seine Absicht zielgenau zu ändern. Er ist eben kein einfacher sadistischer Psychopath, sondern glaubt tatsächlich, dass er den Menschen mit seinen grausamen Handlungen hilft, sich von einer seiner Meinung nach verlogenen Welt zu befreien.
Auch das der Corinthian (Boyd Holbrook) deutlich mehr Präsenz hat, stört mich wenig überraschend nicht, immerhin ist er eine der interessantesten Kreationen von Neil Gaiman. Es wirkt aber eben nicht nur wie ein Gimmick, um den Fanliebling häufiger zeigen zu können, sondern der Corinthian dient an vielen Ecken dazu, Erklärungen für die Zuschauer*innen zu ermöglichen. Die Graphic Novel wirft die Leser*innen praktisch unvorbereitet in eine komplexe Welt und nimmt sich deutlich seltener als die Netflix-Serie die Zeit, sie zu erklären. Für ein breiteres Publikum ist das natürlich eine nachvollziehbare Entscheidung, die offenbar auch diejenigen, die die Vorlage kennen, nicht stört. Denn wenn ich mir die Kommentare im Sandman-Subreddit ansehe, wo sich wahrscheinlich einige der leidenschaftlichsten Fans tummeln, so ist doch erstaunlich, auf wie viel Gegenliebe die Netflix-Serie stößt.
Optisch schöpft der Netflix-Hit sein Potenzial nicht aus
Nach all dem Lob muss ich jedoch leider sagen: In einem Punkt hat mich die Adaption doch enttäuscht. Zwar merkt man, dass bei der Produktion offenbar kaum Kosten und Mühen gescheut wurden und etliche der fantastischen Welte und Konzepte mit aufwendigen Spezialeffekten zum Leben erweckt wurden. Doch wenig überraschend gibt es hier angesichts der Fülle an umwerfenden Darstellungen Grenzen. Besonders offensichtlich wird das in der Folge, in der Dream in die Hölle geht. Allein das Tor zum Reich von Lucifer ist in den Comics ein derart widerlich grotesker Anblick, der frei nach Guernica an einen Fiebertraum eines surrealistischen Malers erinnert. Körper und andere Lebensformen scheinen da mit dem Tor regelrecht verschmolzen zu sein, was die Hölle als Ort der Qual ohne Umschweife etabliert. Das Tor zur Hölle in „Sandman“ kommt hingegen deutlich konservativer daher. Auch die Hölle selbst wirkt im Vergleich zur Graphic Novel erschreckend leer und geradezu langweilig. In der Vorlage müssen wir bei Dreams Reise durch das Reich etliche grausame Folterdarstellungen ertragen, auch die Dämonen sind deutlich abwechslungsreicher und ausgefallener als in der Serie gestaltet.
Wie erwähnt, hat das leider eine böse Vorahnung von mir nur bestätigt. In puncto visueller Darstellungen ist „The Sandman“ wohl weiterhin unverfilmbar, denn eine detailgetreue Umsetzung würde derart viel Budget verschlingen, dass es sich für Studios vermutlich nicht mehr rechnen würde, eine Adaption zu beauftragen.
Ein paar andere Probleme mit der visuellen Darstellung ließen sich allerdings leichter korrigieren. So ist die Farbgebung leider sehr ungesättigt und insgesamt eher farblos gehalten. Teils fühlte ich mich hier eher an einen der gräulichen Marvel-Film erinnert, die mit dieser durchaus kritisierten fehlenden Sättigung ihren Produktionen einen realistischeren Anstrich verleihen wollen. Gerade in einer solch fantastischen Welt wie bei „Sandman“ hätte man aber meiner Meinung nach gerne knalligere Farben wählen können, um dadurch optisch für mehr Abwechslung und Highlights zu sorgen. Auf der anderen Seite wirkt die Serie aber auch insgesamt zu gut ausgeleuchtet. Die Graphic Novel spielt viel mit Licht und Schatten, um so gezielt Situationen oder Charakteren eine schaurige Atmosphäre zu verleihen. Dieses Mittel wird leider in der Netflix-Serie viel zu sporadisch und wenn, dann nicht wirklich konsequent eingesetzt, wodurch ihr kein wahrlich einzigartiger Anblick verliehen werden kann.
Dennoch kann ich nur betonen, dass die Verantwortlichen von „Sandman“ ihre Herkules-Aufgabe erstaunlich gut erledigt haben. Allein die Besetzungen hätte einige Preise verdient, neben Tom Sturridge als Dream haben mich vor allem Mason Alexander Park als Desire, Gwendoline Christie als Lucifer sowie Kirby Howell-Baptiste als Death und natürlich der erwähnte David Thewlis als John Dee völlig überzeugt. In diesem Sinne: Wenn ihr „Sandman“ noch nicht gesehen habt, solltet ihr das schleunigst nachholen. Und falls ihr mit allen zehn Folgen durch seid, kann ich euch die Comics von „The Sandman“ nur wärmstens ans Herz legen. Die erste Omnibus-Ausgabe gibt es beispielsweise bei Thalia, allerdings nur auf Englisch. Wenn ihr das Werk auf Deutsch genießen wollt, erwartet euch der erste Comic-Band beispielsweise bei Amazon oder alternativ als hochwertiges Hörspiel bei Audible.